Abi 2020
Vor einer Woche noch standen wir oben am Schulzentrum. An der Nordwand der großen Sporthalle hatte jemand Schnüre gespannt. Quer über die grauen Waschbetonplatten. Wer? Keine Ahnung. Irgendjemand von der Schule, denke ich. Also weiter. Drei Schnüre, dazwischen etwa 75 Zentimeter Platz. Der Grund: In diesem Jahr, für diesen Abijahrgang gibt es klare Vorgaben. KLARE VORGABEN! Die Abiplakate müssen ein Meter mal 0,75 Meter groß sein. Querformat. Für zwei Schüler vergrößert sich die Fläche entsprechend. Klar. Aber wie unwichtig das alles heute.
Wir standen also am letzten Donnerstag da oben. Eltern, Freunde, Bekannte, Schüler, Geschwister. Die grauen Wolken hatten sich verzogen, die Sonne schien und wärmte sogar ein bisschen. Alle am Aufhängen, begutachten, lesen. Alle aufgeregt, weil eine Woche später die erste schriftliche Abiprüfung stattfinden sollte. Englisch übrigens. Alle etwas unsicher, ob es bei dem regulären Termin bleiben würde. Möglich, dass aber offen, ob sich in dieser knappen Woche noch einer der Schulabgänger in spe mit dem Coronavirus anstecken und dann die Prüfung verschoben würde. Jene, mit denen ich sprach, wünschten sich, dass es kein Verschieben geben solle. Bay, weil sie seit den Weihnachtsferien lernt und sie die ganze Ungewissheit enorm belastet. „Ich bin langsam am Ende meiner Kräfte“, brach es aus ihr heraus. Zoé, weil sie die Prüfung endlich hinter sich bringen will. Lilli, weil sie die ungeliebte Schule verlassen will. Je eher, desto besser. „Und weil ich gehört habe, dass die Themen der Nachschreibtermine viel schwerer sind.“ Verständlich.
Damals, in diesem anderen Leben vor knapp einer Woche, war die Anspannung rund um das Virus schon präsent. Wir haben sie alle gespürt, aber trotzdem war da das Gefühl, China sei doch weit weit weg und Italien irgendwie auch. Verrückt, oder? Bei China ist es klar, muss man nicht weiter drüber reden. Weit weg zu sagen, reicht aus. Aber Italien? Sehnsuchtsort blasser Mitteleuropäer, mürrischer Oberlehrer und lebensbejahender Sportfreunde. Vielleicht begreift, durchdringt, versteht der Mensch einfach erst erst dann, wenn er selbst betroffen ist. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich kaum fassen, wie sich diese Woche entwickelt hat. In den Medien heißt es in diesen Tagen oft: Wir haben es mit einem hochkomplexen dynamischen Prozess zu tun. So oder so ähnlich halt. Was bis vor gut zwei Wochen in anderen Zusammenhängen grau-theoretisch in den Ohren klang – bestenfalls Bürokraten-, Polit- oder Expertensprech -, ist seither sich täglich verstärkend bei jedem Schritt in der Öffentlichkeit zu sehen.
Ich muss aufhören. Meine Freundin ruft an.