Die Glücksbringerin

Dem Himmel ganz nah

Michaela Rühl ist eine gertenschlanke, blonde, junge Frau. Sie trägt Perlohrstecker, hat strahlend weiße Zähne und ein gewinnendes Lachen. Bei der Arbeit kleidet sie sich monochrom. Schwere schwarze Arbeitsschuhe, schwarze Cargohose, schwarzes Longsleeve, schwarze Weste, schwarzes Käppi, schwarze Handschuhe. Manchmal hat sie sogar schwarze Rußflecken im Gesicht, weil sie gelegentlich mit dem Handrücken über die Nase wischt.

Seit einem halben Jahr arbeitet die Schornsteinfegerin in Büdingen. Im Betrieb des Bezirksschornsteinfegers Heinrich Mangold. Die 33-Jährige ist viel unterwegs in der Stadt: treppauf, treppab, Leitern rauf und runter. Sie klettert durch Dachfenster, balanciert auf Dachfirsten, kehrt Kamine, kniet vor Heizungen und Kaminöfen. Oft hat sie einen schweren Rucksack mit Werkzeug und Messgerät geschultert, wenn sie vor der Haustür steht. Kein Wunder, dass sie lachend sagt: „Man muss topfit sein in diesem Beruf. Im Fitnessstudio habe ich mich längst abgemeldet.“

Schornsteinfeger gelten gemeinhin als Glücksbringer; das erlebt auch die junge Frau im Büdinger Kehrbezirk: „Wenn ich in der Altstadt unterwegs bin, kommen öfter mal Leute auf mich zu und fassen mich am Oberarm an. Manche sogar, ohne zu fragen. Sie sagen dann: ‚Ich hole mir ein kleines bisschen Glück'“, erzählt Michaela Rühl. Im Taunus und in ihrer Heimatstadt Grünberg, wo sie zuvor tätig war, ist sie gelegentlich gefragt worden, ob sie als Glücksbringerin zu einer Hochzeit kommen würde. „Für diese Gelegenheiten habe ich einen sauberen Anzug und meinen Zylinder.“ Sie erkundigt sich bei den Organisatoren der Feier, wann die kirchliche oder standesamtliche Trauung stattfindet, und wartet in ihrer Kluft vor dem Gebäude. „Ich habe dann ein Glücksschwein dabei oder bereite ein Körbchen mit Glücksbringern für das Hochzeitspaar vor.“ Oft würden Fotos gemacht. Mit ihr, dem Brautpaar und den Hochzeitsgästen. „In Büdingen hatte ich allerdings bisher noch keine Anfragen“, lacht sie.

„Im Kehrbezirk Grünberg kannte ich alles“, fährt Michaela Rühl fort: „Jedes Haus, jeden Hund, alle Leute. Ich wusste, wer von wem den Hausschlüssel hat, welche Klingel kaputt ist und wo ich deshalb ans Fenster klopfen muss. Ich wusste, wo ich wie aufs Dach kam und wo die Heizung ist.“ Es habe Leute gegeben, die hätten nur die Tür geöffnet und gesagt: ‚Kommen Sie rein. Sie kennen sich ja aus.'“ In Büdingen habe sie erst einmal die Häuser, in denen sie den Kamin kehren sollte, finden müssen, bei ihrem Chef anrufen und nachfragen müssen. Es dauere einfach eine gewisse Zeit, sich in einem neuen Bezirk zurechtzufinden, alles und alle kennenzulernen. In der Anfangszeit wurde sie von einigen Kunden an der Haustüre erst einmal gefragt, ob sie sich ausweisen könne oder ob sie etwa eine Betrügerin sei. Zu ungewöhnlich ist es wohl, dass unverhofft eine junge Frau in der Berufskleidung der Kaminkehrer vor der Tür steht. „Es gibt Leute, die haben bei Herrn Mangold angerufen und gefragt, ob ich tatsächlich bei ihm arbeite.“

Eigentlich wollte Michaela Rühl Tierarzthelferin werden. Im achten Schuljahr machte sie ein Schulpraktikum bei einem Tierarzt. „Vorher dachte ich, ich würde mich da um kleine Tiere kümmern: Hunde, Katzen, Hasen, Meerschweinchen. Aber es ging hauptsächlich um Großvieh. Fleischbeschau, Besamung. Sowas. Wir haben Metzgereien besucht. Da wusste ich: Das will ich nicht beruflich machen.“ Im neunten Schuljahr absolvierte sie ein Praktikum bei einem Schornsteinfeger. Ihr Vater, von Beruf Bankkaufmann, brachte sie auf die Idee. „Weil er sich schon immer für diese Tätigkeit interessiert hat, vielleicht selbst gern Schornsteinfeger geworden wäre“, vermutet Michaela Rühl. Dieses zweite Betriebspraktikum gefiel ihr gut. Nach ihrer Mittleren Reife habe sie also eine Ausbildung zur Schornsteinfegerin im Kehrbezirk Hungen begonnen. „Ich wollte nie im Büro sitzen, da werde ich todunglücklich“, war sie sich damals sicher. Ihr Lehrmeister in Hungen hatte bereits eine junge Frau ausgebildet und gute Erfahrungen mit ihr gemacht. „Deshalb wollte er mich sehr gern als Lehrling nehmen.“ Die Ausbildung, die regulär drei Jahre dauert, konnte Michaela Rühl auf zweieinhalb Jahre verkürzen. Mit 21 machte sie in einem Kehrbezirk im Taunus ihre Meisterprüfung. „In vier Schornsteinfegerbezirken habe ich bislang gearbeitet – Büdingen mitgerechnet. In dreien habe ich mich als erste Frau durchschlagen müssen“, berichtet sie.

In ihrer Ausbildung wechselten sich drei Wochen Blockunterricht in der Berufsfachschule in Bebra mit der praktischen Ausbildung im Betrieb ab. Während sie mit 16 oder 17 Jahren noch froh gewesen sei, dass während der Berufsfachschulphase – und damit im angeschlossenen Internat – drei Mädchen unter den mehr als 30 Auszubildenden waren, ist ihr das später nicht mehr wichtig gewesen. Kollege oder Kollegin: Das macht keinen Unterschied. „Aber man muss wissen, dass im Handwerk ein rauerer Ton herrscht. Man braucht ein dickes Fell.“

Mit ihrer Berufswahl ist Michaela Rühl nach wie vor zufrieden. „Technik und Heizungstechnik interessieren mich, außerdem klettere ich gern. Als Schornsteinfegerin bin ich den ganzen Tag in Bewegung und habe Kontakt zu Menschen.“ Sie berät Kunden nicht nur in Brandschutz-, Umwelt- und Energiefragen, sondern überprüft auch, dass die gesetzlichen Umweltstandards der betriebenen Feuerstätten eingehalten werden.

In ihren 17 Berufsjahren hat Michaela Rühl einiges erlebt. Sie hat Vögel, Vogelnester oder sogar Waschbären und deren Nester in Kaminen entdeckt. „Die Vögel sitzen vor allem im Winter auf den Schornsteinen und wärmen sich. Vom Kohlenmonoxid wird ihnen schummerig und sie fallen in den Kamin.“ Flatternd würden die Tiere versuchen, wieder hinauszukommen, aber oft genug gelinge es ihnen nicht. Sie habe tote Tiere hinter der Kaminklappe gefunden, aber auch lebende aus dem Kamin befreit. „Einmal habe ich eine Kaminklappe geöffnet, um den Ruß heraus zu fegen, und dahinter saßen fünf Waschbärenjungen. Ich war froh, dass die Alte nicht da war.“ Mehrmals musste sie bereits den Notarzt holen, weil sie Kunden in gesundheitsbedrohlichen Situationen vorfand. Zweimal wurde sie versehentlich im Keller eingesperrt. Einmal hat ein Kunde ihr im Heizungskeller sein Herz ausgeschüttet, weil seine Frau sich von ihm getrennt hatte. Manche Hausbewohner verweigern ihr gar den Zutritt. „Viele wissen nicht, dass es bestimmte Leistungen gibt, die gesetzlich vorgeschrieben sind.“ Die meisten Kunden seien angenehm, betont sie, nur selten gerate sie an unfreundliche. „Dann sage ich mir: Wer weiß, warum sie gerade so schlechte Laune haben. Ich kenne ja die Päckchen nicht, die dieser Mensch zu tragen hat.“ Und vielleicht bringt die junge Schornsteinfegerin genau jenen ja ein bisschen Glück ins Haus.