Noemie

Bangkok 95-14

Flip und seine Frau hatten nicht viel von Manaus mitbekommen. Die Übelkeit überkam Noemie nicht nur in den ersten drei Monaten, sondern während der gesamten Schwangerschaft. Aber wer hätte ahnen können, dass die junge Frau die „wunderbarste Zeit ihres Lebens“ (O-Ton Schwiegermutter) auf dem bunten Patchworksofa im Wohnzimmer verbringen würde – den blauen zerknitterten Coolpack auf der Stirn und einen Eimer an ihrer Seite. Noemie war am Ende. Dunkle Augenringe, leichenblass. Flip fragte sich oft, wie seine Frau sich selbst und ihre Leibesfrucht versorgte. „Schlecht“, lautete die Antwort, die er sich resignierend gab.

Zum Teufel, hätten sie bloß diese Scheiß-Reise nicht gebucht, dachte er jetzt, während er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett lag und den Ventilator an der Zimmerdecke beobachtete. Durch die geschlossenen Holzläden fiel das Sonnenlicht in unregelmäßigen Streifen. Flip stand auf, ging verschwitzt hinüber zur Hotelzimmertür und schaltete den Deckenventilator ein. Noemie beugte sich über den Eimer neben dem Bett und übergab sich. Die Rotorblätter setzten sich mühsam in Bewegung. Kühlung brachten sie keine. Sie verquirlten den Staub bloß, der eben noch träge im stickigen Zimmer getanzt hatte. „Wenigstens sieht man so nicht, wie erbärmlich diese Absteige in Wirklichkeit ist“, dachte Flip. Bestes Haus am Platze hatte die fuchsäugige Frau im Reisebüro zuhause gesagt, als sie die Reise buchten. Teuer. Überteuert. Wenn das hier das beste Haus am Platze war: Wie waren dann die anderen.

Daheim in Aulendiebach hatte alles noch so easy geklungen. Vier Wochen Südamerika. Rio, Manaus, Bogota, Machu Picchu. Buenos Aires, Patagonien. Wandern, Radfahren, Sehenswürdigkeiten. Bad im Meer und ein paar Schritte in der Salzwüste. Wie lange hatten er und Noemie für diese Reise gespart, wie lange alternative Reiseführer gewälzt, Wandertouren im Internet aufgespürt und ausgedruckt. Es sollte die letzte große Reise werden, bevor sie sich dem Projekt „Familiegründung“ zuwenden wollten. Wenige Wochen, nachdem alles geplant, die Reise gebucht und bezahlt war (ja, alles bezahlt und nicht ein Teil angezahlt; in diesem Punkt konnte man mit Noemie nicht diskutieren), hatte seine Frau mit einem Schwangerschafts-Teststreifen in der Hand vor seinem massiven Schreibtisch gestanden. „Flip“, hatte sie freudestrahlend gesagt, „die Südamerikareise machen wir zu dritt.“ Nein, er hatte sich nicht so sehr gefreut wie sie. Bevor er Noemie kennengelernt hatte, war er beruflich mehrmals in Cali und vor allem Mitu gewesen. Er kannte das feucht-heiße Klima der Tropen und Subtropen.

Sie hatten lange darüber diskutiert, ihre Reisepläne aufzugeben. Mit Freunden mit verschränkten Armen und ernsten Gesichtern in der Küche gestanden und sie um deren Meinung gefragt. Noemies Schwester Anna reagierte eindeutig: „Die Frauen unserer Familie bekommen in der Schwangerschaft nichts geschenkt. Lasst es sein, Leute. Das wird kein Urlaub, sondern ein Horrortrip.“ Noemies Frauenärztin dagegen nahm es mit Gelassenheit: „Hey! Was soll da passieren. Wenn ihr abreist, bist du im fünften Monat. Da ist die unsichere Zeit vorbei, in der Föten gern mal abgehen. Kein Grund zur Sorge.“Im Grunde stellte sich die Frage, Reise oder nicht Reise aber gar nicht. Sie hatten keine Reiserücktrittversicherung abgeschlossen. So viel Geld einfach in den Wind zu schießen: Das konnten sie sich nicht leisten.

Jetzt waren sie also hier. Keine zwei Tage. Bis jetzt war alles schief gelaufen. Noemies nicht enden wollende Übelkeit hatte die Reisevorbereitungen zunichte gemacht. Statt der geplanten Bootstour auf dem Amazonas und dem Besuch der weltberühmten Oper von Manaus lag sie auf dem schäbigen Bett in diesem noch viel schäbigeren Hotelzimmer. Hier und dort löste sich die Tapete von der Wand. Das Moskitonetz löchrig. In den Ecken an der Zimmerdecke Schimmel. Wieder beugte sich die Schwangere über den Eimer. Die durchgelegene Matratze hob sich, die rostigen Bettfedern ächzten. „Oh Gott, Flip“, sagte Noemie matt, „wenn ich gewusst hätte, wie das wird, hätte ich auf die Reise verzichtet.“ „Oder auf das Kind“, ergänzte Flip im Stillen.

„Es war eine Schwachsinnsidee, diese Reise“, sagte er laut. „Ich hab’ jetzt keine Lust, dass du mir auch noch Stress machst“, erwiderte Noemie weinerlich. „Mach die Bootstour allein. Geh allein ins Konzert und verschenk meine Tickets. Oder versuch‘, sie zu verticken.“ Flip blickte sie fassungslos an: „Glaubst du im Ernst, ich lass dich hier allein?“ Flip konnte seine Frustration nicht verbergen. „Ich sag‘ dir, was wir machen. Wir schießen diese Scheißreise in den Wind und fliegen nach Hause. Wenn wir hier so lange bleiben wie geplant, überlebst du das nicht. Du wirst immer dünner. Du hast Augenringe und hast ein total spitziges Gesicht.“

Es war nicht das erste Mal, dass Noemie und er dieses Gespräch führten. Anders als sonst wehrte Noemie sich nicht. Widersprach ihm nicht. Flip war erleichtert. Endlich. Er fischte sein Mobilfon aus seiner Hosentasche. „Ich gehe jetzt in die Lobby, da habe ich Empfang. Kümmere mich um alles. Ich buche den frühesten Flug nach Frankfurt. Sobald alles geklärt ist, bin ich wieder da.“ Noemie nickte. Sie hatte Tränen in den Augen und ihr Kinn bebte dramatisch. Flip ging zur Zimmertür, öffnete sie und trat hinaus in den Hotelflur.

Dann ging alles ganz schnell. Es gelang Flip, für den nächsten Tag Flüge von Manaus nach Sao Paulo und von dort nach München und dann nach Frankfurt zu buchen. Zwei Stopps. Gepäck durchgecheckt. 23 Stunden Reisezeit. Plus Anfahrt plus Rückfahrt nach Hause fast anderthalb Tage unterwegs. Mit einer Schwangeren, der ununterbrochen übel ist und die dauernd kotzt. Diese Reise würde er nie vergessen. Das Flugpersonal und die anderen Fluggäste auch nicht.

Jetzt lag Flip entspannt auf dem bunten Patchworksofa im Wohnzimmer und surfte im Internet. Noemie schlief. Seit ihrer missglückten Reise hatte sich das Paar entfremdet. Flip widerte es an, dass seine schöne Frau die Kontrolle über ihren Körper verloren hatte. Er wusste, wie ungerecht es war, kam aber gegen seine Gefühle nicht an. Befand er sich mit Noemie in einem Raum, stiegen Aggressionen in ihm hoch. Nicht nur, weil sie ihm die Reise seines Lebens versaut hatte. Sondern auch weil er keine Kinder wollte und er sich das bisher nie eingestanden hatte. Der letzte Tag in Manaus und die Rückreise hatten das geändert. Es war, als habe sich ein Schalter in seinem Hirn umgelegt. Er konnte den Ekel nicht länger zurückdrängen. Außerdem lag seit Monaten dieser Wal neben ihm im Bett. Und roch nach Kotze.

Flip legte das Tablett weg und griff nach der Lokalzeitung. Bald stand die Kommunalwahl an und ihm, dem Weitgereisten, bereitete es große Freude, über das Kleinklein zu lesen, das die Provinz bewegte. Sein Blick fiel auf die Schlagzeile auf dem Titelblatt. „Zika-Virus: WHO ruft Notstand aus“. „Zika-Virus“, dachte Flip verwundert, „nie gehört.“ Er überflog den Artikel. „… wird von der Moskitoart Aedes aegypti übertragen… drastischer Anstieg an Schädelfehlbildungen in Brasilien… auch Deutsche nach ihrem Aufenthalt… insbesondere Latein- und Südamerika… Schwangere und Embryonen… warnt Schwangere vor dem Besuch der Olympischen Spiele“. Fassungslos starrte er auf den Text. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Sein Herz schlug rasend.

Plötzlich stand Noemie breitbeinig in der Tür. Sie trug eines ihrer blumenbedruckten Rüschennachthemden. Im Schritt war der Stoff großflächig eingenässt „Flip“, sagte sie ganz ruhig, „die Fruchtblase ist geplatzt. Lass uns ins Krankenhaus fahren.“

FAZ vom 14. April 2016 – Verdacht bestätigt: Zika-Virus löst Fehlbildungen bei Ungeborenen aus