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Mittlere Horloffaue

Ja, die Kraniche fliegen wieder. In V-Formation zu Hunderten, manchmal zu Tausenden. Ein großartiges Naturschauspiel, das jeden Herbst im Himmel über der Wetterau aufgeführt wird. Die Hauptreisezeit des Grus grus, so der wissenschaftliche Name des Kranichs, ist im Oktober. Setzt die für die Jahreszeit typische Nordostströmung ein, fliegt er in großen Gruppen ins Winterquartier in die spanischen Extremadura.

Naturschutzwächterin Kerstin Renner steht schon im Beobachtungshäuschen auf der Burg. Mit dem Fernglas blickt sie in die Aue. Mit einem Mal hebt sie den Kopf, lauscht und sagt: „Ich höre Kraniche.“ Im strahlend blauen Himmel sind etwa hundert Vögel zu sehen. Ein Anblick, der einem Gänsehaut beschert. Kurz darauf steigen zwei Männer die Metalltreppe zum Beobachtungshäuschen herauf. Es sind Naturschutzwächter Friedel Wenzel und Udo Seum, Ornithologe, Naturschützer und ehrenamtlicher Gebietsbetreuer des Bingenheimer Rieds.

Ein Badge auf der Jacke der Naturschutz-Rangerin Kerstin Renner

„Haben Sie die Kraniche gesehen“, fragt Udo Seum und erklärt anschließend, warum die Flugroute der Vögel jedes Jahr aufs Neue ausgerechnet über Hessen führt. „Sie fliegen in möglichst gerader Linie von Nord nach Süd. Zwischen Taunus und Vogelsberg können sie Hessen auf dem schnellsten Weg überqueren und finden im Auengebiet der Wetterau gute Bedingungen für eine Rast vor.“ Während Kraniche im Frühjahr so schnell wie möglich in die Brutgebiete flögen, um ihr Revier zu sichern und sich fortzupflanzen, würden sie sich im Herbst Zeit lassen.

„In der Wetterau haben sich über die Jahre zwei Kranich-Rast- und Schlafplätze etabliert“, fährt Udo Seum fort. Zum einen im Bingenheimer Ried und zum anderen am Unteren Knappensee in der Mittleren Horloffaue. Wenn allerdings im Bingenheimer Ried wenig Wasser steht – so wie das in den letzten Jahren häufig der Fall war – übernachten die Tiere in der Mittleren Horloffaue. Vor zehn oder 15 Jahren seien es noch fünf oder sechs gewesen und das habe man sich unter Ornithologen schon als kleine Sensation hinter vorgehaltener Hand erzählt. „Doch es werden jedes Jahr mehr. Es kommt vor, dass Hunderte von Kranichen sich bis zu eine Woche von den Strapazen des langen Fluges ausruhen, um sich dann gestärkt wieder auf den Weg zu machen.“ Tagsüber seien die Vögel auf den Wiesen und Feldern der Region, um Nahrung zu suchen. In der Dämmerung kehrten sie zu ihrem Schlafplatz am See zurück. „Die Vögel unterbrechen ihre Reise gen Süden vor allem, wenn viele Jungvögel in der Gruppe sind“, sagt Seum. „Sie müssen sich das vorstellen wie bei einer Urlaubsreise. Da wird auch gelegentlich Rast gemacht, etwas gegessen und vielleicht sogar übernachtet.“ Gruppen von erfahrenen Altvögeln dagegen würden oft Nonstop bis in die Überwinterungsgebiete fliegen.

Das Gebiet um den Unteren Knappensee ist ideal für eine Rast des Gru gru und seiner Artgenossen. Das Gebiet ist weiträumig und ruhig, die Vögel werden am See nicht gestört. Oben auf der Burg im Beobachtungshäuschen haben Vogelkundler und Spaziergänger dennoch freien Blick auf die sich weit öffnende Niederung mit ihren Wasserflächen und Wiesen. „Die Burg ist ideal zur Vogelbeobachtung“, sagt denn auch Kerstin Renner.

Noch mehr Mittlere Horloffaue

Gemeinsam mit ihren Kollegen Friedel Wenzel und Hans-Peter Henrich überwacht sie 37 Naturschutzgebiete im Wetteraukreis und weitere fünf im Kreis Gießen. Im Frühjahr während der Brutzeit und im Herbst während des Vogelzugs kontrollieren die drei im wöchentlichen Wechsel alle 43 Naturschutzgebiete von Lich bis Bad Vilbel. „Wir stellen sicher, dass sich Menschen so verhalten, dass die Vögel im Frühjahr ungestört brüten und im Herbst ungestört rasten können.“ Nur Förster und Landwirte haben in dieser Zeit Zutritt in die Naturschutzgebiete. Die Naturschutz-Ranger fordern Hundehalter auf, ihre Vierbeiner an die Leine zu nehmen, verscheuchen jene Fotografen, die Fotos am liebsten direkt am Nest schießen wollen und verteilen Infomaterial zu den Naturschutzgebieten. „Die meisten Menschen, die ich bitte, sich an die Regeln zum Schutz von Fauna und Flora zu halten, sind verständig“, sagt Friedel Wenzel. „Daran haben wir gar nicht gedacht“, sei eine Reaktion, die er oft zu hören bekomme. Damit Spaziergänger und Hundehalter, Fotografen, Naturbeobachter und Neugierige sich von den Rastgebieten der Kraniche fernhalten, stellt der Forstwirt bereits Ende September, Anfang Oktober Schilder auf, die auf die rastenden Kraniche hinweisen. In diesem Zusammenhang hält Udo Seum die Beobachtungshäuschen für außerordentlich wichtig, von denen es 20 allein im Wetteraukreis gibt. Sie ermöglichen Zugang in die Schutzgebiete und helfen zugleich, Naturschutz nachvollziehbar zu machen sowie die Bevölkerung für Fragen des Naturschutzes zu interessieren und zu sensibilisieren. „Außerdem gelingt es so, die Menschen an einem Punkt zu bündeln und davon abzuhalten, auf eigene Faust in die Naturschutzgebiete zu gehen“, ergänzt Kerstin Renner.

Die Sonne verschwindet langsam hinter den Hügeln. Über die Landschaft zieht eine weitere V-Formation. „Das waren etwa 500 Kraniche“, schätzt Udo Seum. Zum Rasten oder Übernachten lassen sie sich nicht nieder. Kein einziger Kranich wird das tun, während die Dämmerung über die Aue kriecht und die Novemberkälte in die Kleider. „Wir sind ja nicht in einem Zoo“, sagt Udo Seum. „Da kann man hinfahren und zu jeder Zeit Tiere sehen. In der freien Natur ist das eben anders.“ „Vorgestern hätten Sie hier sein sollen“, sagt Friedel Wenzel. „Da standen hier tausende Kraniche.“ An diesem Tag gibt es sie halt nur hoch oben am Himmel. Dafür sind die rund 500 schnatternden Bläss-Saat- und Graugänse unten in den Wiesen ein gewaltiges Naturerlebnis, für das sich der Aufstieg zur Burg allemal gelohnt hat.

Wissenswert
Das Naturschutzgebiet Mittlere Horloffaue hat eine Größe von 184 Hektar. Es liegt kreis- und regierungsbezirksübergreifend zwischen Grund-Schwalheim im Süden und Utphe im Nordwesten beziehungsweise Unter-Widdersheim im Nordosten. Es wird vom Forstamt Nidda im Auftrag des Regierungspräsidiums Darmstadt betreut. Die Naturschutzwacht ist beim Forstamt angesiedelt. Ansprechpartner ist Funktionsbeamter Naturschutz Walter Schmidt. Die Naturschutzwacht ist während der Brutzeit und während der Zeit des Vogelzugs unter der Telefonnummer 0151-21 46 41 29 zu erreichen.

Wer Kranichzüge sichtet, kann seine Beobachtung melden, zum Beispiel auf der Internetplattform www.ornitho.de. So können die Ornithologen und andere Interessierte verfolgen, wann und wie sich die Kraniche über Deutschland bewegen.

www.naturschutzgebiete-wetterau.de