Revoluzzer-Ritschie

Wie Friedrich XIII die Spruckschen Erblande zurückgewinnen wollte

Missmutig blickte der Prinz aus dem Fenster. Draußen durchbrach die Dämmerung die Nacht. Das fahle Licht der Straßenlaternen verlor an Bedeutung, die Straßenschlucht gewann Konturen. Der Prinz spürte einen Ekel in seiner Kehle emporsteigen, der ihn bereits seit Wochen umtrieb. 

Seine Mutter hatte ihn vor diesem fast schon körperlichen Widerwillen gewarnt. Wahrscheinlich, weil sie ihn selbst nur zu gut kannte. Nach dem großen Krieg hatte sie mit ihren Kindern aus der Heimat fliehen müssen. Ihr Mann war bei Stalingrad gefallen und hatte sie, kaum 19-jährig als Witwe zurückgelassen. Als die russische Front näher rückte, die Sache des Vaterlands verloren war, hatte sie die wichtigsten Wertsachen zusammengepackt, darunter eine lederne Karte der Spruckschen Erblande, das Hochzeitsdiadem ihrer Urgroßmutter und den Spruckschen Stammbaum, dessen stilisierte Blätter wunderbare Smaragde zierten, die ihr Urgroßvater von einer Reise ins südliche Südamerika mitgebracht hatte. Mitsamt den beiden ältesten Söhnen, Friedrich IIX, genannt Riko, und Friedrich IX, genannt Freddi, und der Tochter Sophie Charlotte war sie hochschwanger aus dem Schloss der Herren zu Spruck geflohen. Den russischen Soldaten eilte ein übler Ruch voraus. Dass sie alte Frauen ebenso vergewaltigten wie junge Mädchen, erzählte man sich mit Grauen. Dass nicht einmal die 90-jährige Großcousine ihrer Lieblingstante vor ihnen sicher gewesen war, hatte sie selbst in einem eilig verfassten Brieflein der Tante gelesen. Dieses schreckliche Schicksal hatte die Fürstin ihrer geliebten Tochter, sich selbst, aber auch dem Aufwartefräulein, welches die Familie gen Westen begleiten würde, ersparen wollen. 

Also war eilig angespannt worden und ebenso rasch hatte sich die Fürstin mit ihren Kindern und dem kleinen Gefolge aufgemacht. Ihr Bruder, ein unangefochten beliebter Herrscher einer kleinen, verschlafenen Residenzstadt im Dübinger Wald, Ritter von Ybenburg und Dübingen, hatte ihr eine standesgemäße Wohnstatt in Aussicht gestellt, bis die Russen aus den Spruckschen Erblanden wieder vertrieben waren und die Fürstin das Schloss und die weitläufigen Ländereien, die seit Jahrhunderten im Besitz der hochadeligen Familie waren, wieder ganz und gar ihr Eigen nennen konnte. In der Residenzstadt quartierte ihr Bruder sie in einer Zimmerflucht der ehemaligen Stauferburg ein, die zu den schönsten der ganzen Schlossanlage gehörte. Dass die Temperaturen im Winter dort unter den Gefrierpunkt fielen und einem der Atem vor dem Munde stand, dass die Haare am frühen Morgen zart von Rauhreif bekränzt waren und die Daunendecken eine kleine, kältebedingte Steifigkeit aufwiesen, war, galt der Fürstin nichts. Sie kannte all das aus ihren herrschaftlichen Schlössern, die trotz der vielen Kamine und nie versiegendem Feuerholz aus den nahegelegenen Wäldern zu keiner Jahreszeit ihr klammes Interieur verloren. 

Hier in Dübingen gebar die Fürstin zu Spruck ihren dritten Sohn. Hier wuchs der Junge auf, der wie seine Brüder einer uralten Familientradition folgend, auf den Namen Friedrich getauft worden war – vier Wochen nach seiner Geburt, in der holzgetäfelten Schlosskapelle derer zu Ybenburg und Dübingen. 

Seine Mutter sprach in jener Zeit oft vom Familienbesitz in Caawitz, Baumroda und im Kalten Feld. Mit großer Bitterkeit tat sie dies, denn schon bald nach der Flucht musste sie erkennen, dass er dahin war. Die Russen waren nach Ostdeutschland gekommen, um zu bleiben. Die Deutsche Demokratische Republik wurde gegründet, Besitz enteignet und ging im Volkseigentum auf. Was der Fürstin von ihrem privilegierten Leben blieb, war das Wenige, aber höchst Wertvolle, das sie auf der Flucht mit sich geführt hatte. 

„Die Güter sind verloren. Auf immer verloren“, pflegte sie mit Trauer in der Stimme zu Friedrich XIII zu sagen, den alle nur Ritschie nannten. Der hörte die Worte der Mutter wohl, doch schon damals, als kaum Sechsjähriger, war er nicht bereit, das Schicksal zu akzeptieren. Für seine liebste Maman, Heldin seiner Kindheit, die er stets zu beschützen und der er stets zu gefallen trachtete, wollte er den Familienbesitz zurückgewinnen. Diesen Plan gab er nie auf. Er war es, der die Mutter später, als die DDR unterging und deren Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland angeschlossen wurde, darauf drängte, tätig zu werden. Er selbst wandte sich der Juristerei zu und hatte den Beruf des Anwalts ergriffen, um die Sache der Familie in die Hand zu nehmen und in aller Professionalität voranzutreiben. Er war es, der einen Großteil des Familienvermögens für „die Sache“, wie er es nannte, „verschwendete“, wie die Familie es nannte. Ritschie war es, der vor Gericht immer und immer wieder gegen Mauern rannte. Er war es, dem es nicht gelang, die Erblande zurückzubekommen, sondern nur das alterwürdige Stammhaus derer zu Spruck und das schmucke Jagdschlösschen im Wald von Baumroda. 

Als die Fürstin im Alter von 102 Jahren im Kreise ihrer Lieben starb, war Ritschie schon seit einer ganzen Weile von der Familie verstoßen worden. Lange hatte das Oberhaupt der weitläufigen Familie, Friedrich XIVII Wilhelm Magnus Maximilian zu Spruck, wohnhaft in der Razumovskygasse in Wien, die Sperenzien seines älteren Cousins argwöhnisch beäugt, bevor er schließlich einschritt. Doch als Ritschie vor einigen Jahren bei einer internationalen Konferenz, ausgerichtet von den Raichsburgern in einer Thingstätte nahe des Kehlsteins, als Referent das Wort ergriff, war der Tropfen gefallen, der das Fass zum Überlaufen brachte. 

Friedrich XIV konnte dem Treiben nicht länger tatenlos zuschauen, die Angst, die Ehre der Familie würde befleckt – oder besser: ihr bewusst über Jahrzehnte hinweg aufgebautes republikanische Understatement-Image würde beschmutzt, konnte Friedrich XVII nicht zulassen. Anders als andere Adelsclans, in denen schrille oder schrille angeheiratete oder schrille proletenhaft auftretende adoptierte Mitglieder keine Seltenheit waren, war sein Bestreben, die Familie aus Skandalen und anderen Auffälligkeiten herauszuhalten und gemeinschaftlich den elitären Gedanken im Verborgenen zu leben. Dem stand eine auf Außenwirkung abzielende, moralisch verirrte Person wie Ritschie nicht nur diametral entgegen, sondern sogar im Wege. 

Friedrich XIII wiederum konnte vom alten Glanz der Familie nicht lassen, den Verlust der Erblande und der damit verbundenen Privilegien nicht verwinden. Als sein Bemühen scheiterte, innerhalb des geltenden Rechts das zu erlangen, was er als Gerechtigkeit betrachtete, sann er auf andere Wege. Von seiner nie sonderlich ausgeprägten demokratischen Grundhaltung war zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Schatten vorhanden. Die Idee freier Wahlen und einer Volksvertretung hatte ihm stets Unbehagen bereitet. Auch zweifelte er grundsätzlich an, dass die Abschaffung des Adels 1918 rechtmäßig gewesen war. Wehmütig dachte er an die Jahrhunderte, in denen Kaiser und Könige, Fürsten und andere Vertreter des Hochadels die Geschicke ihrer Untertanen bestimmten. Mit dem Bewusstsein eines weisen Vaters Entscheidungen zum Wohle der Landeskinder treffend, auch wenn diese Entscheidung denen gelegentlich allzu streng erschienen. Wie sollte ein kleines Bäuerlein oder ein fleißiger Handwerksbursche von einfachem Gemüt die Tragweite landesväterlicher Entscheidungen begreifen, wenn er niemals die eigene Scholle verlassen hatte, nicht über die Gemarkungsgrenzen hinausgekommen war und seine Braut höchstens im Nachbardorf gefreit hatte. Von Frauen ganz zu schweigen. Denen hatte der allmächtige Gott weder in der Kirche noch in der Gesellschaft eine Stellung zugedacht, die dem Manne gleich sei, so Friedrich XIII Überzeugung. Das ebenso wohltuende wie eindeutige Bibelzitat „Das Weib sei dem Manne untertan“ trug er, eingraviert auf der Innenseite eines breiten, güldenen Siegelrings, stets bei sich und strich, wann immer er auf Frauen mit feministischem Anstrich stieß, sanft lächelnd über eben diesen Ring, wohl wissend, dass er und seine Kameraden am Ende des Tages über diese verwirrten Suffragetten siegen würden. Mit Grausen hatte er erst kürzlich im  „Teutschen Adelsbulletin“ einen äußerst zweifelhaften Bericht über eine neue Modeerscheinung gelesen, die vor allem jungen Menschen erfasste. Ritschie hatte nicht gänzlich verstanden, um was es in diesem Beitrag ging, doch er hatte einen bedrückenden Eindruck gewonnen. Nachdem schon vor Jahren Wörter, die den Familienstand einer Person klar gekennzeichnet hatten, „Fräulein“ etwa oder „Junker“, abgeschafft worden waren, und später die alles umfassende männliche Form in Texten und feierlichen Ansprachen durch zusätzliche Verweiblichung entstellt worden war, wollten die Halbwüchsigen der schönen und edlen teutschen Sprache der Dichter und Denker nun offenbar endgültig den Garaus machen.

Die zunehmende Distanz seiner Weltsicht zu der Welt, wie sie war, ließ die Sehnsucht nach dem Verlorenem in ihm wachsen. Wäre er Schlossherr und Gutsbesitzer, könnte er sich den Veränderungen erfolgreich widersetzen. Würde es gelingen, das Verlorene zurückzugewinnen, wüchse die Bewunderung aller zu Sprucks ins Unermessliche. Brächte er, Friedrich XIII, den Reichtum, das Ansehen des Fürstentums zurück, wäre ihm ein Platz in der Familiengruft auf dem Friedhof im Kalten Feld gewiss. Ritschie war sich bewusst, dass sein Begehren von Konjunktiven geprägt war. Zugleich hatte ihn die über Jahrzehnte geführten, erfolglosen Kämpfe um den Familienbesitz zwar ermüdet, nicht aber gebrochen. 

Und so lud er anlässlich des 21. Septembers 2013 eine Gruppe von Vertrauten in das Sprucksche Jagdschlösschen in Baumroda, um ihnen einen Plan zu enthüllen, der ihm mit einem Schlag alles zurückgeben würde. Friederich XIII hatte die Überzeugung gefasst, dass der Sturz der demokratischen Regierung, die Übernahme der Staatsgewalt durch ihm ergebene Teile des Militärs sowie seine Proklamation als teutscher Kaiser die Kehrtwende im Lande bringen würde, die er herbeisehnte. 

Die Einladungen verfasste er an diesem Morgen handschriftlich. Die Briefe versah er mit Siegelwachs und dem Spruckschen Siegel. Dann brachte er die frankierten  Briefe zum Postkasten. Als Friedrich XIII sie einwarf, entfuhr ihm ein tiefes, zufriedenes Seufzen.