Endstation Michelau

2016-04-05 15.54.12

Fragment

Kurz vor Michelau war Schluss. Oben auf der Höhe, kurz bevor der Feldweg nach Bindsachsen in eine steile Senke hinabschießt, hatten Soldaten im frühen Frühjahr innerhalb weniger Tage ein Flüchtingscamp hochgezogen. Weiße UNHCR-Zelte, Gemeinschaftsduschen, Gemeinschaftstoiletten, ein Kantinenzelt, eines für die Ärzte ohne Grenzen.

Viel zu wenig Raum für 7.000 Flüchtlinge. Erschöpft. Ausgehungert, viele krank.

Es hatte seit Wochen geregnet. Das Camp versank buchstäblich im Dreck. Dort, wo im vergangenen Sommer noch Rinder auf der Weide gegrast und gelber Weizen im Wind gewogt hatte, standen nun stinkend und menschenunwürdig die Zelte im verschlammten, aufgewühlten Erdreich. Plastikmüll, wohin man blickte. Leere PET-Flaschen, Chipstüten, Joghurtbecher, Plastikbesteck, Einwegverpackungen. Alles, was die moderne Zivilgesellschaft zu bieten hat. Drüben am Grenzzaun wehte ein transparenter Plastikbeutel leise knisternd in der Brise. Das Sonnenlicht fing sich darin. Wenn Maja die Tüte aus einem bestimmten Winkel anvisierte, war sie für einen Moment geblendet. Ja, heute schien endlich die Sonne, dachte das Mädchen wohlig seufzend. Es war frühlingshaft warm. Eine Feldlerche stieg auf der anderen Seite des Grenzzauns jauchzend in die Luft. Wenn Maja die Augen schloss, und ihre ganze erbärmliche Realität ausblendete, war sie für Sekunden sogar glücklich. Sie blinzelte. Konsterniert. Der blaue Himmel und das gleißende Sonnenlicht leuchteten die erbarmungswürdigen Zustände im Lager besser aus, als es ein grauer Tag je hätte tun können.

Die Michelauer waren neugierig, voller Vorurteile gegen die schmutzigen Menschen auf der anderen Seite des Maschendraht-Zauns, der mit NATO-Draht verstärkt war. Die Kreisverwaltung hatte sich bei der Errichtung der Grenze gegenüber der Landesregierung durchgesetzt. Die „akute Gefährdungslage in Michelau“ und das „erhöhte Sicherheitsbedürfnis“ der 343 Einwohner mache es „unabdingbar“, dass die Grenze „unüberwindbar ausgestaltet“ würde. NATO-Draht, so hatte der Kreisleiter argumentiert, sei „gefährlicher als Stacheldraht, da die rasiermesserähnlichen Schneiden stärkere Verletzungen verursachen als normale Stacheldrahtdornen“. Die Opposition hatte gegen die Äußerungen des Kreisleiters erfolgreich protestiert: Er musste keine Woche danach zurücktreten. Die Grenze wurde dennoch mit NATO-Draht gesichert.

Seit das Lager eingerichtet worden war und täglich mehr Menschen aus den Kriegsgebieten eintrafen, waren Michelauer Hundebesitzer nur scheinbar ohne Interesse mit ihren Hunden in Richtung der Grenze geschlendert. Trafen sich zwei Michelauer am asphaltierten Feldweg, den in Friedenszeiten die Mountainbikefahrer mit Karacho hinuntergejagt waren, blieben sie wie zufällig stehen. Sie unterhielten sich, vorgeblich ins Gespräch versunken und schielten doch mit großer Neugier in Richtung Grenze. Maja fand es spaßig, die Schwätzchen haltenden zu beobachten. Die drehten sich umeinander wie auf einem Karussell – im  Bemühen, die Grenze und das Camp beser in Augenschein zu nehmen als der andere. Die braven Bürger wollten sich wohl selbst vergewissern, dass die Fremden da drüben, auf der anderen Seite genau die Menschenfresser waren, die sie in ihrer Angst aus den Flüchtlingen machten.

Die geschlossene Grenze war der Garant dafür, dass die Selbstvergewisserung gut funktionierte. Herr und Hund kehrten nach dem Abendspaziergang in eines der Fachwerkhäuschen zurück – oder in eines der Häuser im Neubaugebiet. Die Fremden, die blieben in sicherer Entfernung hinter dem NATO-Draht.

Oft standen Kinder mit schmutzigen Kleidern und vor Dreck strotzenden Haaren am Zaun, die Finger in die Maschen gekrallt, vorsichtig den scharfen Klingen des NATO-Drahts ausweichend. Sie blickten neugierig hinüber, in das Land, das ihren vom Krieg traumatisierten Eltern wie das Paradies vorkam. Majas Mutter kramte mehrmals täglich ein verblichenes, abgegriffenes Autogramm von Andrea Mörtel aus ihrem Kleid und schaute es an.