Wie man eine Sau erlegt

Herbstwald

Es ist kalt an diesem Novembermorgen. Nicht mal drei Grad. Hell ist es auch noch nicht richtig. Aber trocken. Wenigstens das. Heute wird gejagt im Büdinger Wald. Revierübergreifend. Deshalb ist der Wald rund um den Wildpark mit Verbotsschildern gekennzeichnet, die Jan N., Ordnungsamtsmitarbeiter und Jäger, schon am Freitag an Ort und Stelle gebracht hat. An der Bundesstraße nahe des Wildparks steht ein Hinweisschild: „Treibjagd“ steht in fetten Lettern darauf. Die Autofahrer verringern ihre Geschwindigkeit deutlich. Wohl aus berechtigter Furcht, dass ihnen ein Wildschwein oder ein Jagdhund vor den Kühler laufen könnte.

Jagdscheinkontrolle

An einem langen Tisch sitzt Guido W. auf dem Wildplatz-Parkplatz und prüft Jagdscheine. Der drahtige Mann ist nicht nur seit Jahrzehnten passionierter Jäger, sondern auch Mitpächter des Jagdreviers Büdingen II. Gemeinsam mit Jagdleiter Wolfgang L., Pächter des eben genannten Reviers, hat er die Jagd organisiert. Die beiden begrüßen die 45 Jäger und etwa 15 Treiber, die aus Büdingen und Umgebung, aber auch vom Bodensee und aus Kulmbach angereist sind. Erst mit Handschlag, dann mit einer kleinen Ansprache. Danach weist W. die Jäger ein: So müssen alle Teilnehmer Signalfarben tragen, um im Wald schon von weitem gut erkennbar zu sein. Auch dürfen die Jäger während der Jagd den zugewiesenen Platz, der in der Jäger-Fachsprache Ansitz heißt, nicht verlassen. Dann verkündet W. noch, welche Wildarten zur Jagd freigegeben sind: vor allem Schwarzwild, aber auch Füchse, Waschbären und Damwild. „Denkt daran“, sagt er eindrücklich: „Wir wollen unsere Wiese mähen, aber nicht die Wurzeln ausreißen.“ Die Anwesenden nicken.

Wilde Hatz durch den Wald

Nachdem alle Jäger – auch fünf oder sechs Frauen sind unter ihnen – zu ihren Ansitzen gebracht worden sind, geht es um kurz vor halb zehn auch für die inzwischen ganz schön durchgefrorenen Treiber los. „Uns wird gleich warm“, sagt Alexander S., der schon seit langen Jahren als Treiber an solchen Jagden teilnimmt, und wärmt seine Hände mit seinem warmen Atem. Eben hat er noch lässig auf seinen Stock gelehnt auf dem Parkplatz gestanden. Jetzt steigt er in einen der geländegängigen Wagen, die die 15 Treiber, Hundeführer und deren Hunde ans Ende der Hohen Schneise bringen. Dort oben auf dem Grat zwischen Wildpark und der Bundesstraße  weist W. die Treiber ein. Er kennt das Revier wie seine Westentasche, weiß, wo die „Wildautobahnen“ sind – wie er die oft benutzten Wege der Waldtiere nennt – „und wo der Dachs seinen Bau hat“. Heute ist W. mit der Treibertruppe unterwegs – als einer von acht Hundeführern. Anders als die Treiber, die einen Stock zum Lärmen und vielleicht ein Jagdmesser bei sich haben, tragen die Hundeführer ihr Jagdgewehr mit zwei Tragegurten auf dem Rücken wie einen Rucksack. Wenn die Hunde in den nächsten Stunden Wildschweine aufstöbern, dann dürfen die Hundeführer schießen. Die Hunde laufen aufgeregt umher, Nase dicht am Boden. Sie sind darauf trainiert, Fährten aufzustöbern und den Hundeführern mit Lauten anzuzeigen, wenn sie einer folgen.

Treibjagd!

In langer Linie aufgestellt, jeweils etwa 20 Meter voneinander entfernt, laufen die Treiber los. Punkt halb zehn. Das Tempo ist hoch. Alexander S. hat recht: Da wird einem schnell warm. Zwei Stunden lang geht das so: Hänge hinauf und hinab. Querfeldein. Brombeerdickicht, Baumwurzeln, Totholz, Fichtenpflanzungen mit dürrem Geäst auf Augenhöhe, rutschiges Moos, tiefe Furchen – von Rückmaschinen in den Waldboden gefräst. Ganz egal, drüber, drunter, durch, stolpern und weiter. Umwege werden keine gemacht.  Mir war nicht klar, dass man heutzutage so wild und archaisch durch einen Wald rennen kann. Ich fühle mich wie in einem Film. „Der letzte Mohikaner“ und ich bin Madeline Stowe. Gelegentlich fällt im Wald ein vereinzelter Schuss. Von rechts ist immer wieder ein lautes „Komm, Koooooommm“ zu hören. „Das rufen wir, um die Hunde zu uns zu rufen, aber auch, damit die anderen wissen, wo wir sind“, erklärt W.. Und weiter geht’s über Stock und Stein. Drüber, drunter, durch, stolpern, weiter. Umwege werden keine gemacht. Ich keuche wie beim Sport.

Unerwartet ein Ruf von rechts. Hundert Meter weiter den Hang hinunter liegt vor einer Treiberin ein Wildschein zwischen Birkenschösslingen. Es ist waidwund und kann nicht weiter. W. blickt mir ins Gesicht. Da scheinen in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungsmöglichkeiten durch sein Hirn zu fliegen. Dann rennt er hinüber, zieht sein langes Jagdmesser und setzt einen tiefen Schnitt quer über dessen Brust: „Das führt zum sofortigen Schocktod und das Tier leidet nicht.“ Das alles passiert in Sekunden und ein totes Tier liegt vor mir auf dem weichen Waldboden. Die Sau wird das einzige Wildschwein bleiben, das die Treibergruppe bis zum Ende der Jagd zu sehen bekommt. Nur einmal bleibt W. mitten im Rennen stehen, wendet sich abrupt mitten um und sagt: „Hier riecht es nach Maggi. Wildschwein riecht streng. Wie Maggi halt. Wenn es so riecht beim Spazierengehen, dann liegt wahrscheinlich direkt neben dem Weg ein Wildschwein in der Dickung.“ Ich schlucke. Ganz neue Perspektiven.

Punkt zwölf Uhr Mittag ist die Jagd beendet: „Hahn in Ruh“ heißt das unter Jägern. Alle Teilnehmer finden sich auf dem Wildpark-Parkplatz ein. Sie wärmen sich an der runden Feuerschale, auf der große Scheite glühen, und berichten von ihren Erlebnissen: „Gleich am Anfang ist eine Rotte mit acht Sauen durchgekommen und gleich drauf noch eine mit 12.“ „Und, hast du was geschossen?“ „Nein, du?“ „Ja, zwei“ „Bei mir war gar nix. Ich hab nur zwei Raben gesehen“, erzählen sich die Männer. Oder: „Es ging ganz schön früh los. Den ersten Schuss hab‘ ich um viertel nach neun gehört, da war ich noch gar nicht auf meinem Platz.“ Alles echt. Kein Jägerlatein. Ich war mitten drin.

Ausgewühlt

14 tote Wildschweine werden am Ende der Jagd im Revier von Wolfgang L. geborgen und in die Wildkammer der „Wild-Stubb“ nach Aulendiebach gebracht, deren Inhaber Guido W. ist. Dort werden sie „aufgebrochen“. Bedeutet, dass die Innereien herausgenommen werden. Das erlegte Wild wird gekühlt und in der Wildkammer weiterverarbeitet.

Landen nach einem freien Leben im Wald als Steak auf dem Teller.

Nachmittags kommen alle Teilnehmer der Gesellschaftsjagd vor dem Aulendiebacher Lokal zusammen. Von einem Dutzend Jägern und Treibern wird mit dem Jagdhorn „die Strecke verblasen“. Mitten auf dem Hof liegt ein erlegtes Wildschwein auf einem Bett aus Tannenzweigen. „Die Strecke legen“, nennen die Jäger das. Früher hat man beim „Strecke legen“ alle geschossenen Tiere gezeigt, heute beschränkt man sich auf eines. Man zeigt seine Jagdausbeute nicht mehr her. Für die Jäger, Treiber und Hundeführer geht es nun beim „Schüsseltreiben“ mit dem gemütlichen Teil des Tages weiter. Es wird Erbensuppe und Bauernbrot gereicht. Das Fleisch der erlegten Tiere wird irgendwann in diesem Winter von den „Wild-Stubb“-Gästen verzehrt.

 

PS Fotos von Teilnehmern der Treibjagd, auf denen die Teilnehmer erkennbar sind, habe ich einige, veröffentliche ich aber nicht hier auf der Webseite.