Die wunderbare Welt der Ulla Röhrs

„Es war einmal…“: Mit dieser Einleitung beginnen wohl die meisten Märchen. „Es war einmal ein armer ein Fischer“, „Es war einmal ein armes, süßes Mädchen“, „Es war einmal mitten im Winter“. Auf die Phrase, die jeder kennt, folgen bildgewaltige Erzählungen von Prinzessinnen, Hexen und Zwergen, schönen Jünglingen, schlauen Tieren und bösen Stiefmüttern. Seit 1985 bringen die Brüder Grimm Festspiele in Hanau solcherlei Figuren auf die Bühne, seit 1986 ist die Büdingerin Ulla Röhrs als Kostümbildnerin dabei. Der Kostümfundus der Festspiele ist mittlerweile auf mehr als tausend Stücke angewachsen. Hinzu kommen Hunderte Schuhe und ungezählte Masken. 

Nicht nur der Fundus, sondern auch die Schneiderwerkstatt mit dem großen Zuschneideraum, die Maske und Röhrs Büro sind in der Remise von Schloss Philippsruhe untergebracht. Hier treffen sich an einem verschneiten Februarmorgen die Galeristin Sabine Uhdris, der Weber Udo van der Kolk und sein Mitarbeiter Christian Schmidt mit Ulla Röhrs, um Kostüme zu sichten und auszuwählen. Im Juni findet in Uhdris‘ Galerie Lo Studio eine Ausstellung statt. Deren Motto: „Die Haute Couture der Kostümbildnerin Ulla Röhrs“. Die Brokatweberei Egelkraut aus Trutzhain, die weltweit Theater- und Opernhäuser beliefert, steuert ihre Produkte bei.

Eine Tür mit dem schlichten Türschild „Brüder – Grimm – Märchenfestspiele. Schneiderei. ZG li.“ ist der Eingang zu Ulla Röhrs Reich. In den Räumen dahinter stehen Regale von Wand zu Wand. Darin sind Stoffe in allen Farben des Regenbogens gestapelt bis zur Decke. Dazu Pailletten- und Glitzertuch, sorgsam gefaltet; Knöpfe und Nähgarn, dutzendweis. Auf Holzbrettern stehen wundersame Masken: Ein Ungeheuer aus Die Schöne und das Biest zeigt große Zähne, ein Waldelf zarte Hörner und ein Zwerg struppige Haare aus verfilzter Wolle.

Kostümfundus

„Hier ist mein Schreibtisch und Arbeitsplatz“, sagt Röhrs und weist auf eine Ecke im Raum. Handgezeichnete Kostümentwürfe schmücken die Wand und ein vergilbter Zeitungsartikel mit dem Foto eines schlanken Mannes. Er trägt eine Katzenmaske und rote Overknees. Unverkennbar: Der gestiefelte Kater. „Die Entwürfe sind noch von 2015“ sagt Röhrs. „Ich habe sie damals aufgehängt und hängen lassen. Es gibt immer so viel Wichtigeres zu tun.“ So auch jetzt: In wenigen Tagen beginnen die Schneiderinnen und Gewandmeisterinnen im Schneideratelier mit der Arbeit an den Kostümen für die neue Saison. Dornröschen, Der Froschkönig, Die Prinzessin auf der Erbse sowie Der Brandner Kasper und das ewige Leben stehen auf dem Spielplan.

Das wahre Märchenwunderland befindet sich nicht hier unten in der Werkstatt,  sondern in den weiß getünchten verwinkelten Räumen unter dem Dach der Remise. „Im Turm“, wie Ulla Röhrs sagt. Über eine Wendeltreppe, die bei jedem Schritt fast unmerklich zittert, steigt die kleine Gesellschaft hinauf. Hier oben hängen Hunderte und Aberhunderte von Kostümen aus drei Jahrzehnten. Aufgereiht stehen Kleiderstangen. Kostüme geordnet nach Geschlecht, nach Mode-Epochen oder Fantasiefiguren. Tüll und Samt, Satin und Filz, Leder und Flitterkram. Die Dachgauben sind mit dunklen Tüchern verhängt, damit das Sonnenlicht die Stoffe nicht ausbleicht.

Kostümfundus

Sabine Uhdris und Ulla Röhrs machen sich auf die Suche nach Gewändern, die in der Ausstellung gezeigt werden können. Die Kostüme, die hier lagern, hat Ulla Röhrs gemeinsam mit ihren Mitarbeitern so gestaltet, dass sie auch auf große Entfernung Wirkung entfalten. Selbst Zuschauer in der letzten Reihe sollen bei den Aufführungen von Fantasie und Illusion umfangen werden. Was von fern eine prächtige Samtrobe zu sein scheint, ist bei näherer Betrachtung vielleicht nur ein dünner Bühnenvelours, den das Schneiderinnenteam um Kerstin Laackmann und Anke Küper nach Röhrs Entwürfen in kaiserliche Kleider verwandelt hat. „Kostüme, die aus der Nähe nicht wertig wirken, sind für unsere Zwecke ungeeignet“, erklärt Uhdris und fährt fort: „Wir wollen Kostüme präsentieren, die auch von Nahem hochwertig aussehen.“ Die Sonnenscheibe zum Beispiel, die sich einem Pfauenrad ähnlich aufziehen lässt, mag von weitem als Bühneneffekt begeistern, aus der Nähe wirkt ihr Gelb zu grell, findet Uhdris. Während Kostümdesignerin und Galeristin weiterstöbern, widmen sich die Weber den Stoffen, schauen, welche ihrer Tuche für welches Kostüm Verwendung fand. „All die Muster, Farben und auch die Kombination von beidem sind eine Inspiration für unsere Arbeit“, sagt Udo van der Kolk. 

Kostümfundus

Jetzt nimmt Ulla Röhrs etwas von einem Bügel, das formlos ausschaut. Wie ein Stoffhaufen aus schwerem, hellen Wolltuch. Aufgenäht sind zahllose Tüll-Äste sowie Blätter aus Satin und Glitzerstoff. Die zierliche 65-Jährige lässt ihre Winterjacke zu Boden gleiten und wirft sich den Stoffhaufen wie einen Mantel um. Sie zieht die Kapuze über den Kopf, bis nur die Nasenspitze zu sehen ist und hat sich mit wenigen Griffen in die Waldfee aus Schneeweißchen und Rosenrot verwandelt. Während die anderen das Fantasiegewand bewundern, lacht sie vergnügt, hängt sie es zurück und verschwindet wieder zwischen den Kleiderstangen. Kurz darauf kehrt sie in einem aufwändig gearbeiteten Kleid zurück: „Das Kostüm der Königin aus Die Goldene Gans“, sagt sie. „Das ist wirklich Haute Couture“, nickt Uhdris anerkennend, während sie Gewebe, Schnitt und Nähte begutachtet: „Dieses Kleid müssen wir auf jeden Fall zeigen.“ Auf einem Bügel im Nebenraum sieht sie einen Königsmantel und geht hinüber. Roter Stoff, darüber ein kurzes Cape aus weißem Pelz mit schwarzen Tupfen. „Ist das Echtpelz?“, will sie wissen. „Ja, ist es“, antwortet Röhrs und selbst nach dreißig Jahren im Hessischen hört man noch, dass sie Bremen aufgewachsen ist: „Das ist ein weißer Nerz. Den habe ich von meiner Tante. Ist doch besser, wenn er hier Verwendung findet, als dass er zuhause im Schrank hängt.“ 

Kostümfundus

Wohin man den Blick wendet, springen Märchenfiguren ins Auge. Prinzessinnen hier, Elfen dort, Fantasieflügel allerorten, ein Motorradhelm auf der Fensterbank. Zu jedem Stück hat Röhrs eine Geschichte parat. „Den riesigen Turban dort trug der dicke Sultan in Ali Baba und die vierzig Räuber. Wir haben lange überlegt, wie wir das Kostüm so gestalten, dass der Sultan auf der Bühne tanzen kann. Als wir soweit waren, hat sich die Regie für eine andere Lösung entschieden.“ Oder: „Die Metallstelzen, die dort an der Wand lehnen, gehören zu dem Kostüm eines Riesen aus Das tapfere Schneiderlein. Mit den Stelzen waren die Schauspieler zwei Meter fünfzig groß und wirkten gegen die anderen auf der Bühne wirklich riesig.“

Zwei Stunden lang führt Röhrs ihre Schätze vor. An vielen findet Uhdris Gefallen. Doch bei tausend und einer Möglichkeit fällt die Entscheidung darüber schwer, was in Büdingen ausgestellt werden soll. „Wir müssen wiederkommen“, sagt Sabine Uhdris beim Abschied und alle nicken. Wer wollte auch nicht zurückkehren an einen wunderbaren Ort wie diesen.

www.festspiele.hanau.de
www.lostudiosabineuhdris.de
www.goldbrokat.eu