Auch wenn die Vulkane schon Jahrmillionen nicht mehr aktiv sind, ist und bleibt ein Vulkangebiet ein fragiler Flecken. Es ist fast so, als bleibe die Erdkruste hier immer ein bisschen labiler, verletzlicher als anderswo. Der Vogelsberg ist ein riesiges Vulkangebiet: Sagenhafte 2.500 Quadratkilometer umfasst seine Fläche. Das ist so groß wie die Insel Réunion im Indischen Ozean oder das Saarland. Heute sieht der Vulkan auf geologischen Karten kegelförmig aus. Das liegt an geologischen Hebungen und Senkungen, die schon vor Urzeiten stattgefunden haben. Es liegt aber auch an der in alle Himmelsrichtungen wirkenden Abtragung des Untergrunds.
Ist ein Vulkan ein Vulkan ist ein Vulkan? Da beschwichtigen Vulkanforscher umgehend: „Der Vogelsberg ist erloschen. Kalt. Es gibt dort seit Jahrmillionen keinerlei messbare Aktivität.“ In der Eifel sei das anders: „Hier liegen die Eruptionen – im Vergleich – erst wenige Jahre zurück und damit sind Ausbrüche dort durchaus möglich. So fand der letzte Ausbruch des Laacher-See-Vulkans vor 12.900 Jahren statt. In Erdjahren ist das nicht einmal ein Wimpernschlag.“
Doch was ist schon sicher in Forschung? Was lässt sich bis zur letzten Kommastelle berechnen? Hat die Wissenschaft nicht ein ums andere Mal erlebt, dass neue Denk- und Rechenmodelle die alten ad absurdum geführt haben?
<Gruppenfoto>
Im Vogelsberg gibt es eine eingeschworene Gruppe, die Meldungen über ungewöhnliche Ereignisse sammelt und auswertet. Die Mitglieder haben sich vor mehr als 25 Jahren auf eine Zeitungsannonce hin getroffen und einen Verein gegründet, der eher einer Freimaurerverbindung ähnelt. Initiator des „Vorsicht Ausbruch – Nix da erloschen“e.V. ist Friedhelm Bartab, damals wie heute 1. Vorsitzender des 90 Mitglieder starken Vereins. Bartab war Ende der 1980er Jahre aufgefallen, dass es im Vogelsberg ungewöhnlich häufig kleinere Geländeeinbrüche gab. In seinem terrassierten Garten nahe Schotten, so sagt er, sei beispielsweise 1989 ein Teilstück in einer Größe von neun Quadratmetern etwa einen halben Meter tief abgesackt. Daraufhin habe er einen Geologen, mit dem er persönlich bekannt sei, darum gebeten, „sich die Sache einmal anzuschauen“. Der Bekannte habe damals mit großem Erstaunen reagiert und erklärt, solche Geländeeinbrüche seien „nicht untypisch für noch aktive Vulkangebiete“. Die Behörden, beklagt Bartab, hätten sich freilich für beider Beobachtungen nicht interessiert und abgewiegelt. Aus einem der vielen Aktenordner, die vor ihm auf dem Tisch liegen, zieht Bartab einen quittegelben. „Schotten 1989-95“ steht in grünen Lettern darauf. Er blättert darin, bis ihm ein vergilbtes, sichtlich in die Jahre gekommenes Schriftstück in die Hände fällt: „Hier. Diesen Brief hat man mir damals geschrieben. Lesen Sie selbst.“
<Foto Brief>
Während wir uns in das Schreiben vertiefen ist es still in der Stube. Ein Brief voll mit Floskeln, Behördendeutsch. Ausweichend. Freundlich, unverständlich, im Kern ein: „Da sind wir nicht zuständig.“ „Die haben die Fakten einfach ignoriert. Sagten, wenn ein Vulkangebiet so lange inaktiv sei wie der Vogelsberg – viele Millionen von Jahren -, sei hundertprozentig davon auszugehen, dass er erloschen sei“, entrüstet sich Bartab. Manfred Mauer, der sich ebenfalls seit langem in der Sache engagiert, ergänzt: „So stand es in der offiziellen Antwort des Regierungspräsidiums in Gießen. Und das ist im Prinzip auch richtig, nur machen die den Fehler, allgemeine Erfahrungen auf diesen speziellen Fall anzuwenden. Wir beobachten die Vorgänge hier im Vogelsberg nun schon seit mehr als zwanzig Jahren genau. Zwar sind wir nur eine Laientruppe mit beschränkten Mitteln, aber wir können mit allergrößter Sicherheit sagen, dass die Wahrscheinlichkeit von Vulkanaktivitäten hier bei uns um ein Vielfaches größer ist als zum Beispiel in der Eifel.“
Leider findet diese Einschätzung kein Gehör. Bartab, Mauer und die anderen Aktiven werden in den Gemeinden des Hohen Vogelsbergs sogar als Spinner und Panikmacher beschimpft. Fünfmal sind in unserem Vereinshaus in Ulrichstein, in dem wir alles zusammentragen, Fenster eingeworfen worden. Um die Steine waren Zettel gewickelt, auf denen sowas stand wie „Get zurük woher ir gekommen seit“ oder „Fortt, ir traurign Ahmleuchter“.
<Foto Stein/beschriebenes Papier>
Einmal ist sogar ein Brandsatz hineingeflogen. Nur gut, dass Familie Rhöner, die im ersten Stock wohnt, vom Klirren des Glases aufgeweckt wurde und Vater Rhöner sofort nach unten ging, um nach dem Rechten zu schauen. Er hat den Brandsatz entdeckt und hat geistesgegenwärtig sofort eine Wolldecke darüber geworfen, um die Flammen zu ersticken. „Was hätte da alles passieren können!“ ruft Mauer aus. Seiner Ansicht nach haben die Vogelsberger Angst, dass die vielen Tagestouristen ausbleiben könnten, die inzwischen aus dem Rhein-Main-Gebiet kommen, um zu wandern oder Rad zu fahren.
Frauke Kneifl, Frontfrau des Vogelsberger Tourismusverbandes, drückt es botanisch aus: „Der Vogelsberg wird gerade erst als Tourismusregion erschlossen. Vorstöße wie die des Vereins „Vorsicht Ausbruch – Nix da erloschen“ könnten das zarte Tourismus-Pflänzchen schnell wieder zum Verwelken bringen.“ Die Bürgermeister der Gemeinden sehen das ähnlich. Ihr Hauptargument bringt Horst Mäser, seit 40 Jahren Bürgermeister von Herbstein, auf den Punkt: „Jetzt ist 12 Millionen Jahre nichts passiert, warum also in den nächsten 12 Jahren?“ Dabei wippt der Kommunalpolitiker triumphierend auf den Absätzen.
Genau die ablehnende Haltung ist es gewesen, die Bartab zu einer weitreichenden Erkenntnis brachte: „Damals ist mir klar geworden, dass hier nur mit Eigeninitiative etwas erreicht werden kann.“ In gleich zwei Zeitungen hat er im Mai 1990 Annoncen geschaltet.
<Foto Annonce>
Bartab erzählt: „Zuerst sind wir nur zu fünft gewesen. Meine Frau, Manfred Mauer, seine Frau und ein Journalist der hiesigen Zeitung, der seit langem auf die große Story seines Lebens gewartet hat und der inzwischen leider verstorben ist.“ Inzwischen gehen täglich neue Aufnahmeanträge ein. „Ist auch viel Schrott dabei“, erklärt Petra Frottenkötter, die sich um die Neumitglieder kümmert: „Unendlich viele Leute, die irgendeiner Verschwörungstheorie frönen und das irgendwie auch mit dem bevorstehenden Ausbruch des Vogelsbergs in Verbindung bringen.“ Das reiche von der jüdischen Weltverschwörung über die Ermordung John F. Kennedys bis hin zur Idee, der Vogelsberg sei der rote Knopf für irgendwelche Aliens, die kurz davor ständen, die Erde auszulöschen. Sie grinst: „Große Finger müssen die haben, diese Aliens.“ Frottenkötter: „Die meisten dieser „Deppen“ kriegen eine freundliche Ablehnung. Wo kämen wir hin, wenn wir diese Irren aufnehmen würden. Die haben den Ernst der Lage noch gar nicht kapiert.“
Der Verein hat bei dem renommierten Institut Friesen-Nuss eine Studie in Auftrag gegeben, finanziert durch Crowd-Funding. Geld ist bei dieser Aktion reichlich zusammengekommen – und der Verein bedient sich dessen auch, obwohl bekannt ist, dass genau die Irren und Deppen, denen Frottenkötter die Aufnahme im Verein verweigert, die höchsten Spendensummen aufbringen. Doch hier sieht der Verein weg: Man konzentriere sich auf den Vereinszweck und müsse hierfür auch unkonventionelle Wege gehen, lautet die lapidare Erklärung.
Die Studie hat es in sich. Unabhängige Friesen-Nuss-Wissenschaftler haben den gesamten Vogelsberg seismisch untersucht und raten dringend zu weiteren Untersuchungen. Das gesamte Gebiet müsse engmaschig geodätisch überwacht werden. An vielen Stellen seien bereits Risse erkennbar, auch gebe es Anzeichen vulkanischen Tremors. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass „nach Abwägung aller Faktoren und anschließender Prüfung aller Argumente davon auszugehen ist, dass im Gebiet des Vogelsbergs in den nächsten zehn Jahren mit einem verheerenden Ausbruch zu rechnen ist.“ Das Institut geht sogar so weit, die Wahrscheinlichkeit zu beziffern und schreibt von etwa 98 Prozent.
Von offizieller Seite wird die Studie angezweifelt, einige Vogelsberger Bürgermeister haben sogar das Gerücht gestreut, der Verein „Vorsicht Ausbruch – Nix da erloschen“ habe das Institut mit Millionenzahlungen geschmiert. Darauf angesprochen wehrt Bartab entrüstet ab: „Wir recherchieren in der Sache seit einem Vierteljahrhundert. In unserem Vereinshaus in Ulrichstein werden alle Meldungen gesammelt. Es sind Zeitungsauschnitte, Tagebucheinträge, Fotos, persönliche Berichte und merkwürdig verformte Gegenstände. Steine, Karten und Baumwurzeln. In den vergangenen 25 Jahren hat der Verein so viele Artefakte zusammengetragen, dass der Stauraum längst knapp wird. „Obwohl wir mit dem Material und mit der Friesen-Nuss-Studie eindeutig beweisen können, dass gehandelt werden muss, passiert nichts.“ Bartab hat dennoch nicht vor aufzugeben. Für ihn ist der Gedanke unerträglich, dass er und seine Mitstreiter Recht behalten und abertausende Menschen zu Tode kommen werden, wenn das größte Vulkangebiet Europas zum Leben erwacht.
„Wenn man hundert Atombomben gleichzeitig zünden würde, könnten die Folgen nicht schlimmer sein“, sagt er und fährt fort: „Und auch ein Meteoriteneinschlag wäre nichts dagegen. Die gesamte Nordhalbkugel wäre lahmgelegt, die Eruption rund um den Erdball zu spüren. Abertausende Quadratkilometer Land würden die Lavaströme unter sich begraben. Und da haben ein paar Vogelsberger Bürgermeister Angst, dass die Touristen wegbleiben.“