Der November ist nicht nur ungemütlich, kalt und grau, sondern auch ein Monat voller Trauertage. Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag und Totensonntag erinnern an die Vergänglichkeit des Seins. Pfarrerin Sandra Hämmerle spricht im Interview über Bestattungskultur, trauernde Angehörige und den Sinn von Ritualen.
Frau Hämmerle, offenbar kennen viele Menschen die Bedeutung der Gedenktage im November nicht mehr. Machen Sie als Pfarrerin diese Erfahrung ebenfalls?
Ja, das erlebe ich auch. Der Volkstrauertag zum Beispiel ist für viele Menschen der Tag, an dem der Toten des 1. Weltkriegs gedacht wird. ‚Damit habe ich nichts zu tun‘, denken sie. Doch es geht an diesem Tag um Menschen, die bei Gewaltakten jeder Art ums Leben gekommen sind. Der auf ihn folgende Ewigkeitssonntag, wie der Totensonntag auch genannt wird, gedenkt der Verstorbenen der vergangenen zwölf Monate. An diesen beiden Tagen trauern wir gemeinsam um die Verstorbenen.
Möglicherweise hat sich die Art und Weise geändert, wie Menschen um einen Verstorbenen trauern und Gedenktage verlieren deshalb an Bedeutung.
Das kann sein. Ich beobachte, dass Trauer privatisiert wird. Die Menschen wissen oft nicht, was sie Hinterbliebenen am Grab sagen sollen, wie sie Trost spenden können. Deshalb bleiben sie Bestattungen manchmal lieber fern. Aber Privatisierung findet auch anders herum statt, wenn Angehörige darum bitten, von Beileidsbekundungen am Grab abzusehen. Die Privatisierung zeigt sich teilweise auch an der Anzahl der Beerdigungsbesucher. Oft feiern die Menschen nur noch im kleinen Kreis. Die Menschen suchen nach anderen Formen als früher, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Im Internet finden sich zum Beispiel Gedenkseiten, virtuelle Friedhöfe sozusagen. An den dort veröffentlichten Daten kann man ablesen, wann eine Gedenkseite erstellt wurde. Es gibt welche, die sind ein Jahr oder sogar zehn Jahre nachdem jemand gestorben ist, eingerichtet worden. Menschen haben das Bedürfnis ihre Trauer auszudrücken – selbst wenn die gesellschaftlich als angemessen geltende Trauerzeit vorbei ist.
Der Trend zu Privatisierung von Trauer und öffentliche Trauerportale im Internet passen aber nicht recht zusammen.
Trauerportale sind ein Gegentrend. Die Menschen möchten ihren Schmerz teilen. Der digitale Zugang entspricht ihnen vielleicht mehr als eine andere Ausdrucksform, vielleicht auch den Lebensumständen unserer Zeit. Jemand kann an einem beliebigen Ort auf der Welt sein und seine Trauer an einem bestimmten Tag virtuell äußern. Er muss nicht physisch an einem bestimmten Tag an einem Ort anwesend sein.
Was spricht denn dagegen, eine Bestattung auf den engsten Familienkreis zu beschränken?
Eine christliche Bestattung richtet sich zwar an die Angehörigen, aber eben nicht nur. Sie ist ein öffentliches Ereignis für alle. Es ist das Recht aller, sich von dem Verstorbenen zu verabschieden. Er war schließlich nicht nur Vater, Bruder oder Sohn, sondern auch Freund, Arbeitskollege, Vereinsmitglied oder Nachbar.
Können Sie erklären, warum die Bestattungskultur sich wandelt?
Bis vor ein paar Jahrzehnten existierte nur die Erdbestattung. Die Trauer der schwulen Community um die AIDS-Toten hat das geändert. Viele homosexuelle Menschen wurden von ihren Familien verstoßen. Sie haben Flächen angekauft und sich in dieser Community bestatten lassen. Freunde haben ihre Särge bemalt. Diese Bewegung hat einen Wandel bewirkt. Inzwischen gibt es Grabfelder für Menschen, die sich nicht mit ihrer Familie identifizieren, aber Teil einer anderen Gruppe sind, ja sogar für Fußballfans. Es gibt Urnenwände und kirchliche Gemeindegräber, die von den Gemeinden gepflegt werden. Viele Ältere sind ja in Sorge, dass ihr Grab nach ihrem Tod verlottert, weil die Angehörigen sich nicht darum kümmern können, weit entfernt wohnen, keine Zeit dafür aufbringen. Es gibt Rasenfelder mit Einzelgräbern und anonyme Rasenfelder, die aber die Möglichkeit bieten, Blumen darauf zu legen. Die anonymste Form der Bestattung ist für mich die Seebestattung. Was kann es Anonymeres geben, als die Asche eines Toten in den Wind zu streuen!
In den letzten Jahren entstehen immer mehr Friedwälder. Wie steht die Kirche zu dieser Entwicklung?
Damit haben sich die Kirchen anfangs schwergetan. Den Friedwäldern liegt der Gedanke zugrunde, der Verstorbene kehrt in die Natur zurück. 65 Prozent aller Bestattungen in Deutschland sind inzwischen Urnenbestattungen. In Friedwäldern finden ausschließlich Urnenbestattungen statt. Der Soziologe Hartmut Rosa hat in diesem Zusammenhang gesagt, die Menschen gäben sich hier einer grandiosen Selbsttäuschung hin. Sie wollen eins sein mit der Natur, aber nicht von Würmern zerfressen werden. Ich habe während meiner Ausbildung einmal ein Krematorium besucht, gesehen, wie ein Sarg in den Ofen geschoben und verbrannt wurde. Doch es verbrennt nicht alles. Anschließend wird alles Künstliche aus der Asche genommen: das künstliche Hüftgelenk, Zahnimplantate. Nicht einmal alle Knochen sind verbrannt. Sie kommen in eine Rüttelmaschine und werden kleingeschlagen, damit sie in die Urne passen. Unter „Ruhe in Frieden“ stelle ich mir etwas Anderes vor.
Warum haben sich die Kirchen mit Friedwäldern und Bestattungshainen schwergetan?
Anfangs war es so, dass es vielfach keine ausreichende Ausschilderung gab. Der Ort, an dem ein Mensch bestattet worden war, war nicht mehr auffindbar. Mancher Friedwald liegt so ungünstig, dass er für ältere oder gehbehinderte Menschen schwer erreichbar ist. Nach der Kritik der Evangelischen Kirche haben viele Betreiber einiges zum Guten geändert: Viele Haine sind gut ausgeschildert, die Wege auch für Ältere besser begehbar. Die Namen der Verstorben sind an den Bäumen zu lesen.
Wir haben vorhin über anonyme Bestattungen gesprochen. Anonym heißt namenlos, ohne Hinweis auf den Verstorbenen. Sehen Sie das als Pfarrerin kritisch?
Aus theologischer Perspektive sind anonyme Bestattungen problematisch, weil die Identität eines Menschen mit seinem Namen verbunden ist. „Du hast mich bei meinem Namen gerufen“, heißt es schon in der Bibel. Sie gehen der Gemeinschaft der Lebenden verloren, wenn sie namen- und zeichenlos bestattet werden. Wenn der Name auf einem Grabstein steht oder am Baum im Friedwald befestigt ist, heißt das: Es ist nicht egal, dass dieser Mensch gelebt hat. Der Mensch hat einen Namen und damit eine eigene Identität. Es ist ein Akt der Menschenwürde, dass man ihn auch nach seinem Tod nennt.
Ein Mensch lebt weiter, wenn wir ihn beim Namen nennen und uns erinnern. Braucht es dafür einen Ort – wie etwa einen Friedhof?
Die emotionale Beziehung zu einem Menschen bleibt bestehen, auch wenn er tot ist. Um sich zu erinnern, suchen Menschen in der Regel Orte, die sie mit dem Verstorbenen verbinden. Für den einen ist das der Friedhof, für eine andere eine Bank im Park. Es kann auch ein Unfallort sein. Gibt es kein Grab, wie das bei anonymen Bestattungen der Fall ist, kann es sein, dass die Angehörigen irgendwann einen solchen Ort der Kontaktaufnahme vermissen. Deswegen ist es wichtig, das im Beerdigungsgespräch zu besprechen.
Ist ein Friedhof ein Ort des sozialen Miteinanders, der gemeinsamen Trauer?
Früher trafen sich die Witwen auf dem Friedhof, kümmerten sich um Gräber plauderten mit den anderen Witwen. Doch auch die Friedhofskultur wandelt sich. Heutzutage werden manche Friedhöfe zu Parks. Bäume werden gepflanzt, Cafés gegründet. Früher trennten hohe Mauern den Ort der Lebenden vom Ort der Toten. Jetzt öffnet sich der Raum. Auf dem Dorf sind Friedhöfe aber vielleicht noch eher Orte der Begegnung als in der Stadt. Hier kennen sich die Leute. In der Stadt ist das anders. Aber meine Generation würde auch nicht auf den Friedhof gehen, um mit anderen Trauernden in Kontakt zu treten, sondern Angebote wie die Trauergruppe für Familien wahrnehmen, die regelmäßig im La Porta stattfindet.
Gibt es in der Bestattungskultur gute und schlechte Trends, wie in so vielen anderen Lebensbereichen auch?
Durchaus. Manche sind sinnvoll und tragen, andere befremden. Ein guter Trend sind die Sternenkinder. Da haben Eltern durchgesetzt, dass an einem Ort um Frühchen getrauert werden kann. Früher gab es für diese Trauer keinen Raum. Früher hieß es: Kinder nehmen nicht an Beerdigungen teil. Heute gibt es einen Trend aus den Niederlanden, dass Kinder in der Kita den Sarg eines verstorbenen Kindes bemalen. Das halte ich für eine gute Art von Trauerbegleitung. Auch gut gepflegte, virtuelle Gedenkseiten sind ein positiver Trend. Wenn jemand die Asche eines Verstorbenen zu einem Diamanten pressen lässt und dann als Ring gefasst am Finger trägt, dann ist das kein guter Trend. Aber ich will nicht werten, wie Menschen ihre Trauer verarbeiten. Was Menschen tatsächlich hilft: An diesem Satz müssen Bestattungsformen gemessen werden.
Gedenktage wie der Volkstrauertag oder der Totensonntag sind christliche Rituale, wie auch Bestattungen bestimmten Ritualen folgen. Ist sowas nicht längst überholt?
Mit dem Totengeläut rufen wir bei einer christlichen Bestattung in die Gemeinde hinaus: ‚Hört! Hört! Es ist jemand von uns gestorben und er wird jetzt bestattet.‘ Am Ewigkeitssonntag entzünden wir eine Kerze, um an Verstorbene zu erinnern. Sie brennt während des ganzen Gottesdienstes und alle brennenden Kerzen für die Verstorben erinnert die Trauernden daran, dass sie nicht allein sind. Dass andere auch Trauer zu bewältigen haben und sie Teil einer Gemeinschaft sind. Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Dieser Mensch, der gestorben ist, kann nicht ersetzt werden. Niemand muss Trauer nach einem Jahr oder einer bestimmten Zeit bewältigt haben. Das ist nicht überholt, sondern nach wie vor aktuell.
Und Bestattungsrituale?
Klassische Beerdigungen, bei denen ein Sarg in der Trauerhalle steht, sind eine andere Art der Verabschiedung als etwa eine Urnenbestattung. Wenn mehrere Männer den Toten zu seinem Grab tragen, hat das Gewicht. Eine Bestattung in einer Urnenwand ist abstrakt. Eine Person trägt den Verstorbenen in der Urne dorthin, stellt ihn in ein Fach, schließt es mit vier Schrauben. Bei einer Erdbestattung sage ich die Worte „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“ und werfe Erde auf den Sarg. Damit sage ich: ‚Du bist Teil der Schöpfung, dein Leib kommt aus der Erde und dorthin kehrt er zurück.‘ Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe kein Problem mit einer Urnenbestattung, aber es ist einfach etwas Anderes. Als Liturgin erlebe ich die Hinterbliebenen fragender, wenn sie vor der Urne stehen. Mit einem Sarg ist für die Hinterbliebenen der Tod erfahrbarer. Man kann sich den Menschen im Sarg vorstellen, das hilft die Trauer zu verarbeiten. Ein Grabstein lässt sich anfassen, der Name und die Sterbedaten darauf lesen. Oft entscheiden die Menschen selbst, wie sie einmal bestattet werden wollen, dass sie eingeäschert werden wollen. Es ist wichtig, dass sie mit ihren Angehörigen sprechen, sie in die Entscheidung einbeziehen. Die Angehörigen haben ein Recht darauf zu sagen: ‚Ich brauche einen Ort, ein Grab, einen Grabstein, um zu trauern.‘
Wenn sie nicht überholt sind, müssen kirchliche Rituale dann nicht wenigstens an die moderne Lebenswelt angepasst werden?
Manch einer sagt, die Kirche sei zu steif, die Liturgie zu distanziert. Das sehe ich nicht so. Wenn die Menschen die Rituale nicht verstehen, muss Kirche sie ihnen erklären. Rituale, wie ein gemeinsam gesprochenes Gebet oder gemeinsam gesungenes Lied, trösten. Sie geben Halt. Manche Rituale sind erfahrbar, ohne sie zu verstehen. Wenn ich mit ihnen vertraut bin, dann tragen sie. Man kann sich auf diese Rituale verlassen. Bei Bestattungen ist es so: Alles, was Unsicherheit verursacht, macht auch die Hinterbliebenen unsicher. Wenn ich zu den Hinterbliebenen sage: ‚Machen Sie sich keine Sorgen, wir schaffen das zusammen“, sind sie erleichtert. Und auch mir gibt der rituelle Rahmen, in dem ich mich als Pfarrerin bei einer Beerdigung bewege, Sicherheit.