Nationalsozialismus in Schule rauf und runter. Goebbels, Stauffenberg, Hitlerattentat, Holocaust als Begriff später. Betroffenheit. Schuld anerkannt. Verantwortung Pflicht. Nie-wieder-Gefühl, auch Nie-wieder-möglich-Gefühl. Alles in allem Saturiertheit. Weiß ja alles, wenn auch nicht immer im Detail. Keineswegs immer im Detail. Wenn der Hauptmann von Ribbentrop spricht, denke ich: „Ribbentrop who?“ Wolfgang Benz gelesen, Jurek Becker, Filme im Nationalsozialismus als Seminar angeboten, Daniel Kehlmann gelesen, den Film zum Auschwitz-Kommandanten gesehen. Beindruckt vom Bestreben der Enkel und Urenkel, Geschichte der eigenen Familie im Dritten Reich aufzuarbeiten. 8. Mai
Und dann Buchenwald. Topographie des Terrors. Zum ersten Mal das Lagersystem, Konzentrationslagersystem DURCHDRUNGEN. Begriffen. Verstanden.
Der Besuch hinterlässt Kassandra fassungslos. Sprachlos. Verwirrt, ja auch verwirrt.
Wie kann das vergessen sein? Wie in Vergessenheit geraten? Wie abgestritten werden oder relativiert? Und schließlich: Wie integriere ich diese Begegnung mit dem Grauen und dieses ungeschönte Bild des Grauens in mein Leben?
Es ist so oft geschrieben worden, dass der Mensch des Menschen Wolf ist. Die Geschichte der Deutschen ist durchgenudelt. Aber sie ist nicht wirklich bekannt. Ist das provozierend? Nicht mal. Ist es Betroffenheitslyrik? Oder irgendwo Koketterie von einem gebildeten Standpunkt, einem intellektuellen? Nicht mal.
Sie schämt sich für das Unbegreifen. Gerade von einem gebildeten Standpunkt aus.
Diese Maschinerie mit hunderttausenden Helferinnen und Helfern, die Eltern waren, Tanten, Onkel, Kinder hatten und Freizeitvergnügen. Die waren bunt und nicht schwarz-weiß. Das waren Menschen. Die haben industriell getötet. Das muss man erst mal schaffen: sechs Millionen Menschen ermorden. Das ist richtig Arbeit. Da macht man sich morgens ein Worschtebrot in die Blechdose und dann geht man morden. Mittags dann: „Mahlzeit“, Kantine, Sauerbraten mit Klößen und Rotkraut und dann mordet, verscharrt und verbrennt man noch mal bis zum Feierabend.
Und dann gab’s die, die die Mörder nach der Arbeit zum Feierabendbierchen, auf der Kerb oder auf dem Markt, bei der Geburtstagsfeier oder dem Weihnachtsessen getroffen haben. Über die Arbeit hat man da NIEEEE gesprochen. Was dazu führt, dass die anderen NICHTS!!!!1!! vom Grauen wussten.
Treblinka, Sobibor, Auschwitz-Birkenau: Die Vernichtungslager waren im Osten, okay. Aber die Mörder müssen vom Morden gesprochen haben. Es können nicht Hundertausende geschwiegen haben. Vor allem, weil sie ja stolz waren auf das, was sie taten. Sie haben dem Führer und der Volksgemeinschaft gedient. Das wurde weitergetragen. Fraglos. Mindestens als Gerücht.
Und dann kriegt eine Nation Gedächtnisschwund kollektiv.
Wie hoch war der Prozentsatz der Deutschen, die in der SS waren, in der NS-Verwaltung arbeiteten. So ein Lagersystem muss am Laufen gehalten werden. Das organisiert sich nicht von allein.
Wie können Menschen Parteien wählen, die all das in Frage stellen?
Und da steht Kassandra jetzt auf der Verbrauchermesse, an der sie einen Stand für einen halben Tag betreut. Sie schaut auf die Menschen, die vorbeischlendern, Kulis, Gummibärchen und Parkscheiben in große Taschen räumen. Kassandra weiß, dass etwa jeder vierte, der Erwachsenen hier eine dieser Parteien wählt. Es ist eine Hochburg der Rechten. Jeder vierte Wahlberechtigte hier hat für sie gestimmt.
Woher kommt diese Geschichtsvergessenheit? Vielleicht daher:
Etwa ein Prozent der Deutschen waren damals im Widerstand. Etwa 30 Prozent der Deutschen glaubt heutzutage, ihre Vorfahren seien im Widerstand gewesen.
Und wer AfD wählt, hat vielleicht kein Schaff mit deren rechtspopulistischen, ausgrenzenden, Grenzen verschiebenden, auf Empörung und Neid aus seienden Aussagen, die Menschen- und Bürgerrechte in Frage stellen.