Ebola im Vogelsberg

2013-02-02 17.17.44

Wenn die Sonnenscheibe morgens unaufhaltsam über den Horizont krabbelt, tauchen ihre Strahlen die reifen Äpfel auf den Streuobstwiesen nach und nach in goldenes Licht. So rotbackig sehen sie dann aus, als wäre das Bild aus einem 50er Jahre Technicolor-Film herausgeschnitten. Herrgott, kann die Natur es mit den Farben übertreiben! Das prächtige Bild ist freilich mit einer melancholische Tonspur unterlegt. Die säuselt fast hörbar: „S’wird Herbst!“

Dass die Natur auch anders kann als lieblich, müssen in diesen Tagen die Menschen in Rinderbügen mit aller Unbarmherzigkeit erleben. Vor zwei Jahren ist Timo Krämer, damals gerade 27 Jahre alt und mit einem mit Auszeichnung bestandenen Medizinexamen in der Tasche, nach Afrika gereist, um im Team der Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten. Seine ersten Erfahrungen sammelt Krämer in den überfüllten Flüchtlingslagern in Somalia. Nach Ausbruch der Ebola-Epidemie in Westafrika vor einem halben Jahr meldet sich der mutige junge Mann aus Rinderbügen freiwillig für den Einsatz in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents. Den Grund nennt er in einer E-Mail an seine schon damals äußerst besorgte Mutter: „Ich will den Infizierten helfen und meinen Teil dazu beitragen, dass dieser schlimme Virus sich nicht weiter ausbreitet. Du hast keine Vorstellung von den Zuständen in den hiesigen Krankenhäusern – vor allem außerhalb der reichen Wohngebiete.“ Obwohl Mutter Rita alles daransetzte, ihren Sohn von seinem Vorhaben abzuhalten, nahm Krämer vor drei Monaten seinen Dienst in Nigeria auf. In dem mobilen Krankenhaus in einem Armenviertel vor den Toren der Hauptstadt Lagos ist Krämer bis zu 72 Stunden im Dienst. „Es gibt einfach zu wenige Ärzte“, schreibt er seiner Mutter nach Hause, „Nigeria ist zwar durch Erdöl reich geworden, die Ärzte hier sind aber trotzdem unterbezahlt. In den Armenvierteln fehlt es an allem. Die Menschen liegen inzwischen auf Bananenblättern in den Fluren.“ Die Mutter beschließt, nach Afrika zu reisen, um den Sohn nach Hause zu holen. Er ist das einzige Kind der Krämers.

<Foto Familie Krämer>

Die Eltern hatten bis zu diesem Zeitpunkt bereits einige Schicksalsschläge in ihrem gemeinsamen Leben zu verkraften: Heinz-Magnus Krämer arbeitete fast 30 Jahre als Sprengmeister im Basaltsteinbruch nahe Rinderbügen. Durch einen Betriebsunfall, bei dem eine Sprengladung zu früh gezündet hatte, waren Krämer Senior 1996 beide Trommelfelle geplatzt. Ein irreparabler Gesundheitsschaden: Krämer wurde berufsunfähig. Die Familie kämpfte lange – und vergeblich – um eine angemessene Entschädigung. Heinz- Magnus hatte den Anwälten des Unternehmens von Beginn an unsaubere Machenschaften unterstellt – und sollte Recht behalten: Die Argumentation der Anwälte, die dem Sprengmeister mit untergeschobenen Beweisen eine gravierende Mitschuld anhängten, fand bei Gericht Gehör. Es ist nicht verwunderlich, dass die traumatische Familienerfahrung auch an Timo nicht ohne Spuren vorbeiging. „Schon damals – gerade mal elfjährig – hat der Bub verkündet, er wird entweder Richter oder Arzt“, sagt Rita Krämer und schnäuzt in ihr Stofftaschentuch. „Er konnte diese Ungerechtigkeit nicht ertragen“, ergänzt der taube Heinz-Magnus – viel zu laut und sprachlich ungelenk. Rita zuckt entschuldigend die Schultern: „Seit einigen Jahren hat der Babba sein Gefühl für Lautstärke und Artikulation verloren. Vermutlich ist sein Gehirn stärker in Mitleidenschaft gezogen worden, als wir dachten.“ Noch einmal trompetet sie in ihr Taschentuch und lenkt das Gespräch wieder auf ihren Sohn. Auf ihren toten Sohn.

Als die Seuche in Lagos um sich greift, sperrt die Regierung die Armenviertel ab. Keiner kommt rein, keiner raus – außer den Ärzten mit ausländischem Pass und gültigem Visum. Die eingepferchten Menschen werden inzwischen aus der Luft mit Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern versorgt. In ganz Nigeria landet kein Verkehrsflugzeug mehr. Die Angst vor Ansteckung der Bordmitarbeiter der Fluggesellschaften ist riesig. Nicht zu Unrecht.

<Foto Westafrika>

Während die großen Fluggesellschaften vor zwei Monaten noch davon sprachen, dass alle bisher bekannten Krankheitsfälle auf einen einzigen Indexpatienten zurückzuführen seien und keinerlei Gefahr bestehe, weil die Krankheit nur in der akuten Phase ansteckend und eben keine Tröpfcheninfektion sei, fanden sich im Internet glaubhafte Quellen, die ein ganz anderes Bild zeichneten. Da hieß es – wie wir heute wissen wahrheitsgemäß –, dass es mehr als die offiziell genannten Krankheitsfälle gebe und dass diese keineswegs nur auf diesen einen bemitleidenswerten Mann zurückzuführen sei, der am Murtala Mohammed International Airport in einer Menschenmenge tot zusammengebrochen sei. Selbst die nüchterne, manche sagen zynische Argumentation des IATA-Sprechers Tom Micheline und der G9-Außenminister anlässlich einer eilig einberufenen Pressekonferenz in Montreal trugen nicht zur einer Entspannung der Situation bei: „Mit seinen 152 Millionen Einwohnern und 20 bestätigten Ebola-Fällen, die auf einen Indexpatienten zurückzuführen sind, können wir zur Zeit davon ausgehen, dass Ebola ein auf Teile Westafrikas begrenztes Phänomen bleiben wird. Die bisherigen registrierten Krankheitsfälle stellen keinen Grund zur Besorgnis dar.“ Heute, knappe acht Wochen später, würden offizielle Stellen diese Statements so wohl nicht mehr abgeben. Seit drei Wochen werden Güter nun also über dem Flughafengelände in Lagos abgeworfen und die Paletten anschließend mit Hubschraubern in die Armenviertel abgeseilt.

Die äußerst schwierigen Bedingungen, unter den die Ärzte und Krankenschwestern arbeiten müssen, machen Timo Krämer schwer zu schaffen. Sein Kollege Jim Mbara attestiert ihm beginnendes Burn out-Syndrom und rät, für ein bis zwei Wochen in die deutsche Heimat zurückzukehren und sich in Rinderbügen von den Strapazen zu erholen. Als Deutscher gibt es für Timo Krämer die Möglichkeit, das Land legal zu verlassen. Nach einer Untersuchung mit unauffälligem Ergebnis darf der junge Arzt ausreisen. Überglücklich holt ihn seine Mutter am Frankfurter Flughafen ab. Die Ringerbügener sind weniger glücklich. Zu groß ist auch hier im Vogelsberg die Angst vor der lebensgefährlichen Seuche, für die es bis dato noch kein zugelassenes Gegenmittel gibt.

<Foto Rinderbügen>

Hatte die Vogelsberger Lokalzeitung dem jugen Mann bei seinem Auszug nach ins ferne Afrika noch eine ganze Seite und zahlreiche Bilder gewidmet – „Es kommt nicht oft vor, dass ein so junger Mensch aus unserer Region den Plan fasst, den Armen in Afrika zu helfen,“ zitierte die Zeitung damals den Rinderbügener Ortsvorsteher Helmuth Scheuermann (CSF) –, gab es keinen Bericht über den eisigen Empfang in der Heimatgemeinde. „Wos däs Drecksfernseh schreiwe dud, däs glauwe dei Vuchelsbärscher“, soll Timos Großvater Friedrich-Wilhelm Groß gesagt haben. „Die Rinnerwischer denge jetz, sie däde an Ebola sterwe.“

Treppenwitz der Geschichte: Die Rinderbügener sollten mit ihrer Furcht Recht behalten. Zwei Tage vor seinem Rückflug nach Lagos zeigt Timo Krämer die typischen Ebola-Symptome: Dann bricht er im Flur im elterlichen Haus in der Schwimmbadstraße zusammen. Die Nachricht über seinen Tod breitet sich in dem Tausend-Seelen-Dorf aus wie ein Lauffeuer. Panik bricht aus. Die Dorfbewohner packen das Nötigste zusammen, um das Dorf zu verlassen.

Doch anders als sonst reagieren die staatlichen Stellen in dieser Sache ungewöhnlich schnell. Einem geheimen Notfallplan folgend wird der Ort innerhalb von zwei Stunden nach Bekanntwerden des Todesfalls mit Natodraht abgeriegelt. Der Verkehr aus Wolferborn, die drei Schleichwege nach Leisenwald, Michelau und zur Reffenstraße werden kurzerhand gesprengt. Verteidigungsministerin Gisela Vonderschnur gegenüber der Presse grimmig entschlossen: „Hier kommt keiner mehr raus!“

<Foto Bundeswehrhubschrauber>

Inzwischen ist eine Kommunikation mit den Eingeschlossenen nur noch über Telefon oder Skype möglich. Die Familie Krämer hat sich in ihrem Haus verschanzt. Hans-Magnus, passionierter Jäger, verteidigt das Haus vor den Angriffen des wütenden Rinderbügener Mobs. „Keine Glasscheibe ist mehr intakt“, nuschelt er in den Telefonhörer. Über Rinderbügen kreist ein Helikopter. Anfänglich schwirrten dort am Himmel auch Drohnen, mit denen nicht nur Schaulustige, sondern auch das „Drecksfernseh“ die hoffnungslose Lage der Eingesperrten filmen wollten. Nachdem das Bundesluftfahrtamt über Rinderbügen eine Flugverbotszone für alle Fluggeräte einrichtete, normalisierte sich die Lage. Nur Fluggeräten des Heeres ist der Flug über dem kleinen Ort in den Ausläufern des westlichen Vogelsbergs erlaubt.

Für Mutter Rita, strenggläubige Christin, kommt die Rinderbügener Heimsuchung von ganz oben. Sie ist davon überzeugt, dass es sich um die Strafe des Herrn handelt, mit einer Verzögerung von 417 Jahren.

Im Jahr 1597 kommt es – aufgrund von Forderungen aus der Bevölkerung – zu einem Hexenprozess gegen vier Frauen aus Rinderbügen. Margreth Faust, Anna Hanß, Anna Dietrich und Katharina Hoffmann wird vorgeworfen, am Hexensabbat auf dem Hexentanzplatz gewesen zu sein. Sie werden verhaftet und in Birstein eingekerkert. Die juristische Fakultät der Universität in Marburg – eine der ältesten Universitäten Europas – entscheidet: Die Folter ist rechtmäßig. Zwei der vier Frauen erhängen sich daraufhin. Die hochschwangere Katharina Hoffmann wird auf eindringliche Bitten ihres Ehemannes und gegen eine hohe Geldsumme entlassen. Die vierte wird gefoltert und bleibt doch standhaft. Anna Dietrich, Mutter von neun Kindern, beharrt auf ihrer Unschuld. Das Gericht lässt nicht von ihr ab: Einige Tage später wird sie weiter gefoltert. Das bringt nicht nur die Leute auf, sondern auch den Ysenburger Hofprediger Anton Prätorius. Allein seinem mutigen Eingreifen ist es zu verdanken, dass Anna Dietrich ihr Leben behält und aus der Haft entlassen wird. Der Hofprediger selbst kann von Glück sagen, dass er nicht als Hexenmeister angeklagt und selbst hochnotpeinlich verhört wird. Er wird nur entlassen und des Landes verwiesen.

<Foto Anton Prätorius>

Die Stimmung in Rinderbügen dürfte im Jahr 1597 nicht weniger aufgeheizt gewesen sein als in den Tagen, als die afrikanische Seuche mehr als ein Viertel der Dorfbewohner in Rinderbügen dahinrafft. Die anderen Erkrankten können mit dem noch nicht zugelassenen Medikament aus den Vereinigten Staaten von Amerika geheilt werden. Wie es freilich mit den Menschen im Dorf nun weitergeht, wird erst die Zukunft weisen. Die Dorfgemeinschaft liegt in Trümmern: Nicht eine Familie im Dorf, die keinen Toten zu beklagen hat; nicht ein Überlebender, der sich in der extremen Situation nicht schuldig gemacht hätte.

Von alledem ahnt die Sonne nichts, die nun hoch am Herbsthimmel steht, während Truppen der Bundeswehr den Natodraht abbauen und der Geruch von Straßenteer in der Luft liegt.

 

PS Diese Geschichte habe ich weit vor dem Ebola-Ausbruch in Westafrika geschrieben. Als die ersten Meldungen in den Medien zu lesen waren, habe ich mich gefragt: Was wäre, wenn…