Toleranz und Gewissensfreiheit

Dr. Klaus-Peter Decker in seinem Arbeitszimmer

Klaus-Peter Decker, ehemaliger Leiter der Fürstlichen Archive in Birstein und Büdingen, hat ein neues Buch veröffentlicht. Es besticht einmal mehr durch reiches Faktenwissen sowie ausgezeichnete Recherche und Analyse. Der Historiker befasst sich unter dem Titel „Gewissensfreiheit und Peuplierung“ nicht nur mit der Toleranz und Wirtschaftspolitik in den Ysenburger Grafschaften im 18 Jahrhundert, sondern auch mit religiösen Strömungen der Zeit.

Herr Dr. Decker, der Begriff „Peuplierung“ dürfte den meisten nicht geläufig sein, also erst einmal eine Verständnisfrage: Was bedeutet das?

Peuplierung ist ein zeitgenössischer Begriff, der heute verschwunden ist, aber in der damaligen Zeit viel gebraucht wurde. Es geht um die Bevölkerungsvermehrung nach den langen Kriegsjahren des 17. Jahrhunderts. Nach dem Westfälischen Frieden von 1648 hat es etwa hundert Jahre gedauert, bis der alte Bevölkerungsstand wieder erreicht war. Wenn eine Gesellschaft sich nicht so schnell aus sich selbst regenerieren kann, wird versucht, Leute ins Land zu holen. „Peuplieren“ heißt nichts anderes als „wieder bevölkern“.

Würden Sie das Konzept „Peuplierung“ bitte genauer erklären.

In einer großen Migrantenwelle um 1600 sind Niederländer aus den Habsburgischen Niederlanden zum Beispiel nach Frankfurt gekommen. Sie haben Geld mitgebracht, Wissen, hochwertige Handwerke. Für solche Leute waren die kleinen Ysenburgischen Grafschaften nicht attraktiv. Städte wie Offenbach oder Wächtersbach haben also von dieser Migrationswelle nicht profitiert. Deren Chance ergab sich mit der Politik des französischen Königs Ludwig XIV. Er widerrief 1685 das Edikt von Nantes, das den Hugenotten bis dahin Religionsfreiheit zugesichert hatte. Ludwig XIV ließ den Protestanten zwei Optionen: zum Katholizismus zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Nicht nur die Hugenotten waren hiervon betroffen, sondern auch die Waldenser aus den Alpentälern, weil sich der Herzog von Savoyen der französischen Politik anpassen musste.

Nachdem mit dem Edikt von Nantes in Frankreich die Ausübung des protestantischen Glaubens untersagt war, haben weit mehr als hunderttausend Menschen das Land verlassen. Haben sich daraufhin Hugenotten – und auch Waldenser – in den Ysenburger Territorien angesiedelt?

In der zweiten Migrationswelle von 1698/1699 suchten erneut Flüchtlinge in deutschen Territorien Aufnahme. Sowohl Waldenser als auch Hugenotten zeichneten sich durch einen großen Zusammenhalt aus. Man wollte als Gemeinschaft und geschlossene Gruppe zusammenbleiben. Die Entstehung von Waldensberg – heute ein Stadtteil von Wächtersbach – oder auch die Gründung Neu-Isenburgs als hugenottische Siedlung verweisen darauf. Zwischen der Herrschaft und Vertretern der Migranten wurden dabei genaue Ansiedlungsverträge ausgehandelt, die Rechte und Pflichten beider Seiten enthielten. Dies gilt im Übrigen auch für die Herrnhuter, die später auf dem Herrnhaag, einem Hügel zwischen der Ronneburg und Büdingen, eine große Siedlung errichteten.

Hugenotten und Waldenser flohen aus Frankreich, um Leib und Leben zu retten. Welche weiteren Gründe gab es im 18. Jahrhundert, die Heimat zu verlassen?

Am Ende des 17. Jahrhundert entstanden im Zuge einer inneren Erneuerung in den protestantischen Kirchen – dem Pietismus – Spannungen mit der Orthodoxie. Abweichler sahen sich gezwungen, ihre Länder zu verlassen und dorthin zu gehen, wo sie größere Freiheiten hatten. Das habe ich in meinem Buch mit dem Begriff „Gewissensfreiheit“ ausgedrückt. Seit dem Westfälischen Frieden waren im Reichsrecht nur noch drei Konfessionen zugelassen: Katholiken, Lutheraner und Reformierte. Alles andere galt als Sekte, war verboten, wurde aber mehr oder weniger geduldet. Das verschaffte kleinen Herrschaften die Möglichkeit, diese zumeist wirtschaftlich sehr tüchtigen Leute aufzunehmen.

Sie sprechen von Abweichlern. Was genau meinen Sie damit?

Nun, da gab es die Separatisten oder die Neutäufer, die nur Erwachsene tauften und die Kindstaufe ablehnten. Zu den eigenartigsten Erscheinungen gehören die „Inspirierten“, auf deren Werden und Wirkung ich detailliert eingehe. Johann Friedrich Rock war der wichtigste ihrer „Propheten“, deren ekstatische Reden als unmittelbare Äußerungen Gottes galten. Heute sind die in ganzen Buchreihen veröffentlichten „Aussprachen“ sogar für Literaturwissenschaftler interessant. Einmal weil sie authentisches Sprechen ihrer Zeit wiedergeben, zum anderen wegen ihrer Wirkung auf literarische Strömungen bis hin zum „Sturm und Drang“.

In Ihrem Buch gehen Sie auf alle Ysenburger Teilgrafschaften ein, beschreiben, wie dort mit den Herausforderungen der Zeit umgegangen wurde. Welche Rolle kommt dem Ysenburger Grafen Johann Philipp zu?

Zum Besitz des Grafen gehörte damals neben Offenbach die Dreieich und das Amt Selbold. Aus einer Herdstellenzählung von 1698 lässt sich erkennen, dass der Untertanenverband dort etwa 2500 Menschen umfasste. Das ist nicht viel. Deshalb zielte Johann Philipps Politik darauf ab, das Land zu peuplieren. Die Residenz Offenbach besaß günstige Standortfaktoren: der Main vor den Toren der Stadt, an Handelsstraßen gelegen, die ins nahe Frankfurt führten. Entscheidend ist gleichwohl auch seine Toleranz in religiösen Fragen. Der Leitbegriff seines Handelns war die Gewissensfreiheit. Seine Offenheit betraf auch die Abweichler und Non-Konformisten. Auch Außenseiter duldete er in seinem Herrschaftsgebiet. Unterstützt wurde Johann Philipp in seinen Unternehmungen durch den leitenden Regierungsrat Johann Mathias Stock und den Hofprediger Conrad Bröske. Die geistig-religiöse Offenheit in Offenbach ist auch an der Einrichtung der Druckerei von Bonaventura de Launoy zu erkennen. Dort wurden selbst Texte offener Abweichler gedruckt.

Offenbach war also ein Hort der Gewissensfreiheit. Kann man in diesen Zusammenhang auch die Gründung von Neu-Isenburg einordnen?

Nur bedingt. Die Hugenotten gehörten der auch in den Ysenburger Grafschaften maßgeblichen Glaubensrichtung an. Sie waren Konfessionsverwandte und fallen nicht unter das zeitgenössische Verständnis von Toleranz oder Duldung. Dennoch; in Offenbach lebten die zugezogenen hugenottischen Familien in den ersten Jahren prekär. Einige Neuankömmlinge wandten sich 1699 an Hofprediger Bröske beziehungsweise den Grafen mit der Bitte um Zuteilung von Land. Diese Bitte markiert den Auftakt zur Gründung von Neu-Isenburg, das anfangs noch „das welsche Dorf“ genannt wurde.

Welche Probleme gab es in den Ysenburger Territorien bei der Aufnahme von Glaubensflüchtlingen?

Das waren meist hausgemachte Probleme. Jene Untertanen, die wirtschaftliche Privilegien genossen – wie etwa die Nutzung von Weiden und Wald – fürchteten, ihre Rechte könnten geschmälert werden. Widerstände von Seiten der Nachbardörfer bekamen auch die ersten Siedler von Neu-Isenburg übel zu spüren.

Was zeichnete die Menschen aus, die auf der Suche nach Gewissensfreiheit ins Ysenburgische kamen?

Es waren oftmals Menschen, die moderne Gewerke und Handwerke beherrschten, aber auch Intellektuelle, die hier die Möglichkeit fanden, sich zu entfalten und in Lohn und Brot zu kommen. Das Besondere an Offenbach ist die gelungene Eingliederung durch das Privileg von 1705. Die Neubürger konnten nicht nur nach der hergebrachten französischen Kirchenverfassung leben, es wurden ihnen auch politische Rechte bis hin zur eigenen Zivilgerichtsbarkeit gewährt. So entstand neben der Altgemeinde die eigenständige „Neugemeinde“. Hinzu kommt die deutliche Förderung der Juden als belebendem Element des Handels, die ihre Zahl schnell wachsen ließ.

Lassen Sie uns noch einmal auf die Herrnhuter zurückkommen, die auf dem Herrnhaag eine große Siedlung errichteten, von der leider nur die Lichtenburg und das Schwesternhaus übrig sind. Was ist das Besondere an dieser Gruppe?

Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der Kopf der Herrnhuter Brüdergemeine, war eine wirkungsmächtige Persönlichkeit. Er wollte eine christliche Mustergemeinschaft bilden. Im Zuge der Verbannung aus Sachsen kam er mit der Gemeine ins Ysenburgische, das er von Reisen bereits kannte. Nach Stationen auf der Ronneburg und in Marienborn erhielten die Herrnhuter 1738 die Erlaubnis des Büdinger Grafen, eine große Mustersiedlung auf den Herrnhaag zu errichten. Eine moderne Anlage in Sichtweite des mittelalterlichen Büdingens. Der Herrnhaag war Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt, vor allem für junge Leute. Zinzendorf unternahm als Prediger Reisen nach England, Nordamerika oder in die Karibik. Das spannende Experiment auf dem Herrnhaag wäre gewiss gelungen, wenn sich nicht eine Eigendynamik entwickelt hätte. Letztlich war die Siedlung auf dem Herrnhaag eben doch ein Staat im Staate. Nach dem Tod Ernst Casimirs wurden die Herrnhuter auf Betreiben des Juristen und Regierungsrats Christoph Friedrich Brauer 1750 ausgewiesen.

Waren die Peuplierungsversuche der Ysenburger Grafen erfolgreich?

Ja, das waren sie. Die Bevölkerung ist gewachsen, moderne Handwerker und Gewerke kamen in die Grafschaften. Das zeigt sich besonders in Offenbach, auch Neu-Isenburg hat sich – trotz Rückschlägen – seit dem 19. Jahrhundert gut entwickelt. Doch durch den Siebenjährigen Krieg, der bis 1763 dauerte, ging an vielen Orten im Ysenburgischen der bescheidene Wohlstand und die Aufwärtsentwicklung, die sich bis dahin abgezeichnet hatte, den Bach runter. Das Land war ausgezehrt, konnte die Bevölkerung nicht mehr ernähren. Etwa 20.000 Menschen aus dem hessischen Raum zogen 1766 – sozusagen als Wirtschaftsflüchtlinge – an die Wolga.

Das Buch
Das 234 Seiten umfassende Buch „Gewissensfreiheit und Peuplierung“ von Klaus-Peter Decker ist 2018 in der Geschichtswerkstatt Büdingen erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich und kostet 18 Euro. ISBN: 978-3-939454-94-6.