Straßennamen wie etwa „Im Breul“ oder „Am Gebück“ sind in der Regel kein Zufall, auch wenn der Namensursprung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist. Der Kreis-Anzeiger hat mit dem Flurnamenforscher Dr. Bernd Vielsmeier gesprochen und um Aufklärung gebeten.
Herr Dr. Vielsmeier, warum gibt es überhaupt Straßen- oder Flurnamen?
Dr. Bernd Vielsmeier: Die Notwendigkeit, eine Straße oder ein Flurstück, also ein bearbeitetes oder unbearbeitetes Geländestück, zu benennen, ergibt sich, wenn Menschen sich verständigen müssen. In der Regel erklärt man das mit Hilfe von Besonderheiten, Auffälligkeiten. Jakob Grimm, der Begründer der Flurnamenforschung, erkannte schon 1838 deren Bedeutung: Wenn etwas benannt worden ist, muss es einen Grund dafür geben. Das geschieht nicht zufällig. Ein Beispiel ist die „Hohe Straße“, die von Frankfurt auf Bergrücken bis nach Leipzig führt und auch an Büdingen vorbeikommt.
Wonach werden Straßen noch benannt?
Straßen werden nach Charakteristischem benannt: Die „Kaiserstraße“ in Friedberg, die auf die Burg zuführt, trug früher den Namen „Breite Straße“. In Ortenberg gibt es die „Stracke Gasse“, die in der Altstadt schnurgerade den Berg hinunterführt.
Würden Sie den einen oder anderen Büdinger Straßennamen erklären…
Früher war es üblich, dass alle Handwerker, die dem gleichen Gewerbe nachgingen, in einer Gasse wohnten. So ist die „Färbergasse“ in Büdingen zu ihrem Namen gekommen. Mindestens ein Färber lebte und arbeitete dort. Die „Altstadt“ hat gewiss erst nach der Entstehung der „Neustadt“ ihren Namen erhalten, weil eine Differenzierung zum neuen Teil der Stadt notwendig wurde.
„Im Breul“ oder auch „Im Brühl“ ist ein in unserer Region relativ häufig vorkommender Begriff. Es handelt sich um ein keltisches Wort – eines der wenigen, die überhaupt erhalten sind. „Im Breul“ bezeichnet in der Regel eine feuchte und damit ertragreiche Wiese, die zum Herrenhof gehört. Herrschaftlicher Besitz, weltlich oder kirchlich, in der Nähe der Siedlung. „Auf dem Damm“ weist auf einen Damm und auf Wasser – in diesem Fall den Küchenbach – hin. Eine Bezeichnung „Am Hain“ in der Nähe einer Stadt oder Siedlung deutet auf einen Teil der Stadtbefestigung hin, mindestens aber auf Feindabwehr. Ähnlich wie „Gebück“: Hier werden die Äste – oftmals Weißdorn – so gezogen, dass sie zu einem dichten Geflecht verwoben werden können. Biegsame Äste werden angespitzt und zeigen nach außen. In die Richtung, aus der ein Feind kommen würde. „Stiegelwiese“ weist auch auf die Sicherung der Stadt hin, Stiegel, das ist eine Stiege oder Steige. Mit dieser Behelfsleiter lassen sich Zäune oder Hecken übersteigen. „Pferdsbacher Weg“ wiederum bezeichnete den kürzesten Weg von Büdingen nach Pferdsbach, auch wenn es den Ort selbst heute längst nicht mehr gibt.
Wann sind die Straßenschilder entstanden?
Es war Kaiser Napoleon, der nach seinen Siegen in Europa Kataster anlegen ließ – zur Besteuerung von Grund und Boden. Im Zuge dessen entstanden verbindliche Straßennamen. Schilder sind nach und nach angebracht worden, spätestens jedoch mit der Reichsgründung 1870/71.
Warum ausgerechnet da?
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Welt komplizierter. Durch die Industrialisierung sind immer mehr Menschen in die Städte gezogen. Mit Erfindung der Eisenbahn wurden sie mobiler. Die Städte wuchsen. Straßenbahnen entstanden. All das machte – zuerst in den Städten – die genaue Bezeichnung von Straßen notwendig. Denken Sie nur an Straßenbahnhaltestellen. Die mussten fixiert und beschriftet werden.
Als aus Steuergründen für jede Gemarkung Kataster erstellt wurden – auch für Siedlungsflächen – mussten Namen verbindlich festgelegt werden. Oder geändert, wenn es auf kleinem Raum mehrere gleichlautende Bezeichnungen gab. Das gilt übrigens auch für die kommunale Gebietsreform in den 1970er Jahren. Wie viele Orte hatten damals eine Hauptstraße! Die Namen mussten so verändert werden, dass diese nur einmal vorkam. Das ist in vielen Orten nicht auf Sympathie gestoßen.
Nochmal zu den Straßenschildern. Wie haben sich die Menschen orientiert, solange es die noch nicht gab?
In einer damals noch kleinen Stadt wie Büdingen war das kein Problem. Wenn Sie am Jerusalemer Tor fragten, wie Sie zum Schloss kommen, dann erklärte es Ihnen jemand. Und wenn Sie vor dem Rathaus unsicher waren, dann fragten Sie wieder nach. In den großen Städten gab es zusätzlich zu den Straßennamen noch Häuserzeichen oder Hausmarken: Malereien oder Skulpturen. Das Goethehaus in Frankfurt zum Beispiel war und ist „Das Haus zum Goldenen Kopf“.
In Büdingen gibt es zwei relativ neue Baugebiete: „Im Lipperts“ und die „Reichardsweide“.
Auch Personennamen können zu Flurnamen und zu Straßennamen werden. In der Regel sind die Eigentümer die Namensgeber. Bei „Reichardsweide“ ist das deutlich zu sehen. Das S, mit dem „Im Lipperts“ auslautet, deutet ebenfalls auf eine Person hin. Ich denke aber, da ist ein Namensteil weggefallen. Das kommt vor. Ich kenne einen Fall, da ist aus „Pulvermannsmühle“ im Laufe der Zeit „Pulvermühle“ geworden.
Auch besondere Pflanzen können namensgebend sein: „Eichelberg“ ist da ein Beispiel. Oder geologische Besonderheiten: einfach alles, was charakterisiert. In den 60er und 70er Jahren erhalten neue Straßen Namen wie „Danziger Straße“ oder „Breslauer Straße“. Hier wohnten oftmals Flüchtlinge aus dem Osten. In den großen Städten mit ihrem großen Bevölkerungszuwachs gibt es ganze Blumen- oder Dichterviertel.
Noch eine persönliche Frage: Was fasziniert Sie an der Flurnamenforschung?
Die Flurnamen betreffen alle Lebensbereiche. Es ist ein spannendes Forschungsgebiet, auch wenn das für Außenstehende nicht so offensichtlich ist. Oftmals ist Detektivarbeit notwendig, um einen Namen nachzuprüfen oder eine plausible Erklärung zu finden. Manchmal braucht man die Hilfe von anderen Fachleuten: Historikern, Naturkundlern, Vogelschützern, Botanikern oder Landwirten, um den Ursprung eines Flurnamens zu deuten.
Wem nützt es, Flurnamen zu erforschen
Es gibt ganz konkrete Nutzungsmöglichkeiten. So ist das Hessische Flurnamenarchiv in Gießen vor einigen Jahren vom Landwirtschaftsministerium angesprochen worden, weil der Biber wieder angesiedelt werden sollte. Wir haben dem Ministerium eine Karte mit allen Flurnamen, in denen „Biber“ vorkommt, zur Verfügung gestellt, weil davon auszugehen ist, dass die Tiere dort früher einmal vorkamen. Auch dieArchäologie arbeitet die Flurnamenforschung zu: Wenn Sie in einem Wald ein Flurstück „Am Rosengarten“ haben, ist das diesseits des Limes in aller Regel ein römischer Friedhof außerhalb einer Siedlung. Dort fanden jährliche „Rosalienfeiern“ statt. Davon leitet sich der Name ab.
Zur Person
Der Sprachwissenschaftler und Historiker Dr. Bernd Vielsmeier (58) ist während seines Studiums in Gießen über die Mitarbeit im Flurnamenarchiv zur Flurnamenforschung gekommen. Dessen Flurnamenmaterial steht im Landesgeschichtlichen Informationssystems Hessen (LAGIS) jedem zur Verfügung. Das Hessische Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg stellt im LAGIS wissenschaftlich gesicherte Informationen zur Geschichte Hessens kostenfrei im Internet zur Verfügung. (www.lagis.online.uni-marburg.de)
Personen und Persönlichkeiten
Landwirt, Färbermeister, Kirchenvorsteher und Bürgermeister: Friedrich Fendt (1854-1926) war der Namenspatron der Friedrich-Fendt-Straße. Die Eberhard-Bauner-Allee hat ihren Namen vom langjährigen Bürgermeister gleichen Namens. Bruno von Isenburg und Büdingen (1837-1906) hat das Rote Kreuz in Büdingen gegründet und der Brunostraße ihren Namen gegeben. Die Hannerstraße gedenkt keiner einzelnen Person, sondern der Kaufmannsfamilie Hanner. Die Bismarckstraße ehrt den ehemaligen deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898), während die Wilhelm-Dotter-Straße den Frachtfuhrmann, 1. Beigeordneten und Ehrenbürger (1899-1934) zum Namenspatron hat.
Umbenennungen
Straßennamen können Ausdruck der politischen Machtverhältnisse sein. So benannten die Stadtväter den Neuen Weg am 15. März 1933 nach Diktator Adolf Hitler. Am 11. Juli 1958 wurde aus ihr schließlich die Berliner Straße. Auch Hermann Göring, führender nationalsozialistischer Politiker und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, erhielt in Büdingen die Ehre eines Straßennamens. Nach Ende des Naziterrors wurde aus der Hermann-Göring-Straße die Mackensen-, die Gothe- und die Schillerstraße. Während die beiden Letztgenannten als deutsche Dichter von Weltrang bekannt sind, handelt es sich beim Erstgenanntem um August Mackensen, einen Feldmarschall des Ersten Weltkriegs.
Das Interview ist im April 2016 im Kreis-Anzeiger für Wetterau und Vogelsberg erschienen.