It’s Krieg, stupid

Da ist er, der Oberstleutnant. Rühriger Reservist, regelmäßige Wehrübungen. Vor ein paar Tagen hat ein Kamerad angerufen. „Wir sind nicht mehr in Gehfeld“, hat der gesagt und: „Wir sind seit Wochen auf dem Truppenübungsplatz in Haastock, bilden ukrainische Soldaten für die Front aus.“ Die ganze Ausbildungskompanie, alle Mann, jede Frau ist umgezogen. Jetzt wohnen sie in Bundeswehrzelten, tragen Gefechtsuniform und sind mittlerweile etwas verwahrlost. Achten nicht mehr so auf sich, wie sie es im Kasernenalltag mit seinen Konventionen und mit der sozialen Kontrolle tun müssten, denkt sie. „Es ist ein bisschen wie im Einsatz“, sagt der Hauptmann.

Aber mal der Reihe nach…

Der Anruf des Kameraden hatte beim Oberstleutnant den Wunsch wachsen lassen, die Einheit in Haastock zu besuchen und mit eigenen Augen zu sehen, was sie da machen, für die und mit den ukrainischen Soldaten. „Es ist strange“, hatte der Kamerad so oder so ähnlich gesagt, „zu wissen, dass wir Menschen ausbilden, die dann im Osten der Ukraine kämpfen… und vielleicht sterben.“ „Vielleicht?“, denkt die Liebste…

Wohl alle Kameraden da auf dem Truppenübungsplatz, verwahrlost oder nicht, fanden die Idee gut, dass der Oberstleutnant sie besucht und so wurde aus einem „Wollte-mal-Hallo-sagen“-Anruf ein dienstlicher Auftrag mit allem Drum und Dran. Der Oberstleutnant packte seine große Bundeswehrtasche, mit Gefechtshelm und Koppelschloss. Tags zuvor war er sogar nach Effbach gefahren, um sich eine kugelsichere Weste zu besorgen. „Das machen mittlerweile viele Soldaten selbst“, hatte er ein ein bisschen naiv und ein bisschen eifrig gesagt. „Selbst kaufen, aha“, denkt die Liebste und: „So schlecht ausgestattet ist sie also, die Bundeswehr.“

In seiner Uniform mit den bunten Flecken, die Soldaten im Wald mit der Natur eins werden und so verschwinden lässt, war der Oberstleutnant aufgebrochen. Aus seinem komfortablen Heim mit großem Garten, Doppelgarage und alkoholfreien Bier im Keller. Aufgeregt sei er, hatte der Oberstleutnant der Liebsten gesagt. Aufgeregt, weil er nicht wisse, was ihn erwarte. Aufgeregt, weil er dem Krieg dort auf dem Truppenübungsplatz nah komme wie nie. Aufgeregt, weil dies alles kein Spiel sei.

Abends rief er die Liebste an. „Ich bin allein in dem Container untergebracht, in dem normalerweise ein ranghoher Offizier unterkommt. Die anderen teilen sich so einen Container zu dritt. Die Stimmung, sagte er, ist ruhig. Gefasst.

„Die Ukrainer sind zum Teil in Hausschlappen weggeholt worden aus ihren Wohnorten, als sie ihre Kinder in den Kindergarten gebracht haben. So haben sie ihren Rekrutierungsbescheid bekommen.“ Es seien Handwerker und Männer aus Dörfern dabei, die nur nach Hause, in die Ukraine wollen.
„Ist ihnen bewusst, dass sie, wenn sie nach Hause kommen an die Front müssen, dass sie dort sterben können“, fragt die Liebste. „Ich frage mich, was dafür sorg, dass sie bleiben und nicht einfach abhauen. Fahnenflucht heißt das, glaube ich, bei euch“, sagt die Liebste:
„Man kann doch nicht ruhig sein, wenn man an die Front soll und die Wahrscheinlichkeit zu sterben, real und groß ist.“
„Ich denke, sie wollen nach Hause und sie wollen ihr Land verteidigen, sagt der Oberstleutnant.

Miteinander sprechen ist für die deutschen Ausbilder und die ukrainischen Soldaten schwierig: Wer von denen kann schon Ukrainisch, wer Deutsch? Also erklären die Ausbilder Soldaten-Dolmetschern, was wie gemacht werden muss. Die geben ihr Wissen an die Ukrainer weiter. Dass auf diese Weise Information verloren geht, dürfte klar sein, denkt die Liebste.
„Aber es ist das Beste, was auf die Schnelle auf die Beine zu stellen war“, sagt der Oberstleutnant.

Er hat der Liebsten ein Video geschickt vom Gefechtsschießen im Wald um Haastock.
„Alter, ist das krass hier“, sagt er am Abend. „Ich habe noch nie so hohe Waldbäume gesehen. Hier ist es wie in einem Urwald. Wilde Natur. Nach dem Schießen wird hier akribisch jede einzelne Patrone aufgehoben, eingesammelt, jedes Loch, das im Waldboden gegraben worden ist, wird wieder mit Erde gefüllt.“
Das gefällt der Liebsten und sie denkt daran, dass Truppenübungsplätze wie dieser wahrscheinlich für Pflanzen beste Standortbedingungen bieten, obwohl der Boden kontaminiert ist. Nur: Ob sich Tiere an den Kampflärm gewöhnen, von den Schüssen irgendwann nicht mehr aufgeschreckt werden?

Eine besondere, eine persönlichkeitsbildende Erfahrung dürfte das sein, was der Oberstleutnant in Haastock erlebt, denkt die Liebste zynisch. Eine, die es nicht gebraucht hätte, aber eine, die nun also da war.

Heute Abend würde der Oberstleutnant wieder anrufen und von seinen Erlebnissen berichten. Gestern hatte er gesagt, dass Stellungskampf auf dem Programm stehen werde. Grabenkampf also, Gräben graben, lernen, wie man in einen Graben hineinklettert, wie heraus, wie man sich in einem Graben bewegt. Alles mit dem Ziel, nicht zu sterben und dem Feind Verluste zuzufügen, Menschen zu töten, Kriegsmaterial zu zerstören. Unerträglich.

Die Liebste musste an die Maginot-Linie denken, an Giftgasangriffe und Millionen Tote, an das Memorial du Linge in den Vogesen. Auf der Kuppe des Linge waren im 1. Weltkrieg abertausende französische und deutsche Soldaten im Stellungskrieg gestorben. Bei einem Wanderwochenende in den Hautes Vosges hatten sie zusammen in den Schützengräben gestanden. Beklemmend still war es gewesen. Bewegt waren sie beide, fassungslos. Da teilte sich größte Grausamkeit und preußisch-disziplinierte Organisation des Kriegsalltags eine Bleibe.

Die deutschen Soldaten hatten auf dem Gipfel massive Steingräben gemauert, eine wahre Festung. Von dort warfen sie Granate um Granate auf die in die Erde gegrabenen und mit Holz gestützten einfachen Gräben der Franzosen unten am Berg. So einfach. So effektiv. So sinnlos. So unmenschlich. Ein Bruderkrieg, wie jeder Krieg ein Bruderkrieg ist, der nichts bringt außer Leid und Tränen, Kriegsversehrte und Kriegswitwen, Kriegswaisen, Leichen, Gestank und Leichen. Am Ende würde man sich an einen Tisch setzen müssen, um Frieden zu verhandeln. Je länger der Krieg, je mehr Tote, je mehr Zerstörung, je mehr Kriegsverbrechen, desto größer der gegenseitige Hass.

Hölle, da ist dein Stachel.