Der Hardecker Nachtmahr

Nachts war die Hardeck besonders gefährlich. Das Wenige, das in den Geschichtsbüchern stand, und alles, was im Internet zu finden war, hatte sich ein einziger Mann ausgedacht, um die Menschen, die in den Tälern um die Burgruine lebten, zu beruhigen. Doch er wusste, was wirklich passiert war, in den Monaten, als die charronischen Söldner die Gegend heimgesucht und die als uneinnehmbar geltende Burg geschleift hatten. 

Am 11. April kamen sie das sumpfige Seemetal von Westen herauf. Breit mäanderte der Bach in seinem Lauf. Noch führte er viel Wasser, denn oben im Vogelsberg lag der Schnee noch hüfthoch. Der Winter war lang gewesen und ungewöhnlich kalt. Gras und Kräutlein wuchsen zögerlich, es fehlten ein paar südlichere Tage. Auch die Bäume zeigten kein frisches Grün, sondern streckten kahle Äste in den bedeckten Himmel. Den Charronen machte die Kälte, der späte Frühling nichts aus. Ihre Vorfahren stammten aus dem westsibirischen Tiefland. Das schüttelt keiner so schnell aus den Kleidern. Selbst dann nicht, wenn es Generationen zurücklag.

Die Söldner waren für ihren Mut bekannt. Gefangene machten sie nie, wo sie einfielen, gab es kaum Überlebende, blieb kein Haus unversehrt. Kein Heer schreckte sie, keine Speere, keine Schwerter, kein Pech. Der Tod schreckte sie nicht. Nun hatten die Charronen in einem versiegelten Brief von einem Unbekannten, der offenbar über großen Reichtum verfügte, den den Auftrag erhalten, die Burg einzunehmen, koste es, was es wolle. Die Frauen, die dort oben im Schutz der starken Mauern Dienst taten, hielten auf diesem Teil der Via Regia Schurken und Straßenräuber in Schach. Burg Hardeck thronte über dem Seemetal und war weithin sichtbar eine Warnung an fremde Mächte und deren Kriegsgesellen. 

Allein der Bergfried und die steile Burgmauer mit dem tiefen, dunklen Graben wirkte auf die Menschen im Tal furchteinflößend. Die Feste war in ganz Europa berühmt. Dänen und Schweden, das Wittgensteiner Heer, die Reußen, Preußen und die Alamanen waren an Mut und Kampfkraft der Hardecker Frauen gescheitert. Keinem war es gelungen, einzudringen oder sie gar zu schleifen. Dabei gab es guten Grund immer wieder gegen die Mauern anzurennen, die sich auftürmten, als habe ein Riesengreif seiner Brut ein geräumiges Nest aus Basaltquadern gebaut. In den Tiefen der Kellergewölbe hielten die Hardecker Frauen einer Sage nach einen Nachtmahr gefangen, der in Freiheit mehr tat, als sich seinen Opfern auf die Brust zu setzten, bis sie mit einem Seufzer ihr Leben aushauchten. Er konnte sich durch das Erdreich, ja selbst durch Stein schlängeln, als sei es bloß Luft und Mondlicht. Sein Moderatem war pestgleich, so hieß es. Aus seinen Tentakeln schoss er giftige Nadeln, die in Fleisch eindrangen, ohne dass es seine Opfer bemerkten. Ihr Sinn vernebelte sogleich und der Nachtmahr konnte mit seinem grässlichen rosa Saugmaul das Leben aus ihnen schlürfen wie aus einer Auster. Alle anderen rochen die Pest, hörten das rosa Saugmaul-Schmatzen, aber sie konnten das Untier nicht sehen. Nur das fahle Licht eines abnehmenden Mondes gab dem Wesen für einige Stunden sichtbar Gestalt. Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hatte das Wesen die Seelen, das Leben von Menscheb und Tieren im Hardecker Wald geraubt. Unbemerkt, ungesühnt. Doch eine der mutigen Hardecker Frauen hatte seinem Angriff in einer dieser Mondnächte getrotzt. Sie war von Geburt an immun gegen das Nadelgift. Und so hatte sie das Wesen gesehen, erkannt und war ihm entronnen. Mit dem Druiden vom Glauberg hatte sie beraten, wie dem Nachtmahr beizukommen war. 

Der weise Mann erinnerte sich an eine Prophezeiung, die von einem Druiden zum anderen weitergegeben wurde seit Menschengedenken. Immer mit der unverbrüchlichen Gewissheit, einmal werde der Tag, die Stunde kommen und dieses Wissen gebraucht.

Die Kernbotschaft war grauenvoll: Dem Wesen ist nicht beizukommen. Es ist unsterblich. Seine Form macht es unverwundbar. Doch könne es, so die Prophezeiung, gebannt werden in Basaltstein und Eisen, umgeben von einem Blutbuchenkreis, in dem wiederum ein blaurotviolettes Kräutlein wachsen müsse.

Die Geschichte vom Kampf der immunen Hardecker Frau mit dem Untier und die Worte des Druiden hatten ihren Weg in die Welt gefunden, waren weitererzählt worden von Händlern, die die Via Regia bereisten von San Christobal nach Kiew. Der Druide selbst hatte sie in ein Lied gefasst und seinem Stamm gesungen, seinem Fürsten, Wunderheilern auf Wanderschaft und abends im Gasthaus an der wärmenden Feuerstelle sitzend durchreisenden Fremden aus dem Osten.

So war die Kunde von dem Monster, das ungesehen mordete und ungehindert Schrecken verbreitete, zu Dänen und Schweden, den Oberen des Wittgensteiner Heeres, den Reußen, Preußen, Alamanen gekommen – und schließlich zu dem Unbekannten und den Charronen gelangt. 

Eben jetzt blickte die Anführerin der Hardecker Frauen das Tal des Seemenbachs hinunter. Sorgenvoll hätte man meinen können. Entschlossen, ja grimmig, wussten jene, die sie kannten. „Eure Blutrunst wird euch nicht retten“ war der erste Satz, der ihr in den Sinn kam, als sie ungezählten Söldnern wie eine schwarze, bedrohliche Wand der Burg zustreben sah.