Deepfake-Caving

Es dämmerte, als er am Höhleneingang ankam. Ihm war das gleich. War er erst im Berg, spielte Tageszeit, spielte Tageslicht keine Rolle mehr. Wichtig war, dass seine Stirnlampe und die GoPro funktionierten und er Ersatzbirnen und ausreichend Akku dabei hatte. Dazu die Seile und Haken, Wasser und ein paar Energieriegel. Er checkte den Rucksack, den er in schmalen Höhlengängen vor sich herschieben würde.

Den Sack hatte er so modifiziert, dass keine Gurte oder Haltegriffe störten, wenn er sich durch Narrows zwängen musste. Er wollte auf keinen Fall, dass der Rucksack hängenblieb und ihn bei der Caveploration behinderte. „Vorbereitung ist alles“, murmelte er vor sich hin, grinste – wahrscheinlich, um die Anspannung zu überspielen – und ging den Weg, der ihn erwartete, noch einmal mit geschlossenen Augen durch. In die Maienhöhle unterhalb des Bilsteins war er schon mehrmals gestiegen und hatte Stunden dort verbracht. Anders als in der Riesending-Schachthöhle in den Berchtesgadener Alpen, in der seine Deepfake-Caving-Leidenschaft geboren wurde, führten hier von einer hohen Halle im Säulenbasalt sechs unterschiedlich breite Gänge weiter in den Berg hinein. Fünf davon hatte er untersucht und war jedes Mal früher oder später auf ein Deadend gestoßen.

Gleich im ersten Gang war es ihm nur mit Mühe gelungen, wieder herauszukommen. Er musste sich langsam, Millimeter für Millimeter über den glitschigen Stein rückwärts schieben, war mit den Ellenbogen immer wieder hängengeblieben und erschöpft, schwer atmend in die Halle zurückgekehrt. Dort hatte er mit gierigen Schlucken getrunken und die Höhlenbewohner beobachtet, die ihn nicht aus den Augen ließen.

Eigentlich wollte er schon da aufgeben und die Maienhöhle anderen Cavern überlassen. „Ich bin doch nicht lebensmüde“, hatte er gedacht. Aber als Ronja Winterstein und Philipp What den ganzen verdammten Winter auf Youtube von nichts anderem redeten, als von ihrem Plan, in der Yosemi’tehöhle zu caven und um Sponsoren warben, da hatte ihn FOMO gepackt. Vor allem, weil der CFO von Red Bell Fred Mackenzie regelmäßig von seinem Privataccount kommentierte und in einem seiner Comments angedeutete hatte, dass das Sportevent gut in das Portfolio des Konzerns passen würde.

Er war der erste gewesen, der sich in die Höhle gewagt hatte! „Fuck, ich überlasse doch den Ruhm nicht diesen Dumbfluencern.“ Eher überstürzt hatte er vier weitere Gänge erkundet. Alle vier unspektakulär, alle vier endeten nach mannshohen Gängen und einigen Bottlenecks in einer einzigen, kleinen Höhle, in der es nicht weiterging. Tierknochen lagen dort und wer auch immer hatte mit Ruß Handabdrücke in die Felswand gedrückt. Er bezweifelte, dass sie von Frühmenschen stammten. Dagegen sprachen die mehr oder weniger verrosteten und zerdrückten Bierdosen auf dem Boden. „Tippe eher auf Jugendliche“, sagte er zu sich und: „Was fehlt, sind gebrauchte Kondome.“ Wieder musste er breit grinsen. Er war schon ein Smartguy!

Der letzte Gang ließ ihn ein paar Nächte schlecht schlafen. Er war eng. Sehr eng. Vielleicht zu eng. Er würde sich mit so wenig Ausrüstung wie möglich dort hineinwagen müssen. Anders als die fünf anderen, die eben waren beziehungsweise nach oben führten, hatte der von Anfang an ein deutliches Gefälle. Dort würde er schnell die Orientierung verlieren. Die Passage stank nach Verwesung und Tierkot. Sie war nicht einzusehen. Selbst mit seiner starken Höhlenlampe war die Dunkelheit kaum zu durchdringen. Blickte er hinein, überkam ihn dennoch wohliger Grusel. „Adrenalinjunkie“, dachte er, „wo die Gefahr groß ist und die Challenge ruft, da konntest du noch nie wiederstehen.“ Eigentlich musst er den beiden Dumbfluencern dankbar sein. Ohne ihre Posts hätte er länger gebraucht, um loszulegen. Dass er am Ende nicht würde wiederstehen können, war aber eigentlich von Anfang an klar gewesen. So tickte er eben. 

Winterstein und What hatten auf Insta, Tiktok und Youtube ordentlich Fuss gemacht und ihr Caver-Event unfassbar gehypt. In zwei Wochen wollten sie reingehen. Sie hatten angekündigt, alle sechs Gänge innerhalb von 24 Stunden zu machen und das Event live zu übertragen. Red Bell war als Sponsor dabei. Sicherheitsleute hatten bereits angefangen, dass Gelände großräumig abzusperren und wollten am nächsten Tag ein Medien- und Versorgungszelt vor dem Höhleneingang aufbauen. Büsche, Gras und junge Bäume waren schon entfernt worden, obwohl Naturschützer den Platz kurzzeitig besetzt hatten. Sie waren von den Cops mit Schlagstöcken vertrieben worden.

Von diesem ganzen Red Bell- und Social Media-Quatsch war er extrem genervt. Denen ging es doch gar nicht um den Sport, sondern allein um die öffentliche Aufmerksamkeit. Das waren keine Adrenalinjunkies, sondern Narzissten und Selbstdarsteller. 

Auf jeden Fall hatte er sich unerwartet beeilen müssen. Es kam nicht in Frage, jetzt outzuwimpen. Seine Bemerkung, Vorbereitung sei alles, war wohl eher the grim kind. Für seine Mom hatte er eine Message auf den Esszimmertisch gelegt, damit sie wusste, wo er war. Sorgen machte sie sich keine – oder zeigte es ihm nicht. Dafür war er dankbar, denn emotionalen Stress konnte er vor solchen Touren wirklich nicht gebrauchen, bitch.

Nach einem Blick in das Dunkel der sechsten Passage entschied er sich dazu, alle Seile bis auf eines und die Haken zurückzulassen. Er würde den Rucksack von Anfang an vor sich herschieben müssen. „Je leichter, desto besser“, murmelte er, bevor er in seinen Suit stieg, die GoPro mit der integrierten Stirnlampe einschaltete und den Helmgurt festzog. Er ging in die Knie, legte sich auf den Bauch, fröstelte und schob sich und den Rucksack in den dunklen Gang, der zu seinem Grab werden sollte.